- Episode:
- 2
- Version:
- V1.1
- Veröffentlicht am:
- Letzte Änderung:
- Länge:
- 8500 Wörter
- Lesedauer:
- 40 Minuten
Elodies Fluch
Ich war gespannt, ob ich in der nächsten Nacht wieder von Miray träumen würde. Am Abend ging ich sehr früh zu Bett und schaffte es, schnell einzuschlafen. Doch ich schlief traumlos bis zum Morgen durch.
Am Abend danach stellte ich die Situation von damals nach. Ich verzehrte einen riesigen Döner von meinem Lieblingsimbiss, nahm ein heißes Bad und setzte mich vor den Fernseher, bis mir die Augen zufielen. In dieser Nacht träumte ich, dass ich meine Wohnung mit einer sprechenden Ziege teilen würde. Danach gab ich den Versuch auf.
Auch in den folgenden Nächten konnte ich mich nur an meine üblichen Träume erinnern. Ich kam zu spät zur Arbeit. Ich hatte Hunger, aber alle Lebensmittel waren verdorben. Nach zwei Wochen sah ich ein, dass mein Abenteuer mit Miray wahrscheinlich eine Ausnahme war.
Mein Chef hatte mich zusammen mit zwei Kollegen zu einer Schulung geschickt. Nach einem langen Tag waren Kopf und Bauch gut gefüllt. Satt und zufrieden saß ich auf der Rückbank des Firmenwagens. Wir befanden uns auf der Autobahn auf dem Weg nach Hause. Ich lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Fahrtwindes und beobachtete durch das Fenster, wie die Landschaft langsam im Dämmerlicht versank. Meine Augen wurden schwer und ich genehmigte ich mir ein Nickerchen, weil ich nichts weiter zu tun hatte.
Das Auto machte unvermittelt einen starken Schlenker, und mein Kopf stieß gegen etwas Hartes.
„Au! Verdammt!“, rief eine Stimme neben mir, die mir vertraut vorkam.
„Miray?“, knurrte ich verschlafen, während ich mir die schmerzende Schläfe hielt. Ich öffnete die Augen. Es war taghell und ich befand mich auf dem Rücksitz einer alten Limousine. Der Fahrer war um die 30 Jahre alt, trug Chauffeurkleidung und kurz geschnittenes, schwarzes Haar. Neben mir saß Miray mit zugekniffenen Augen und rieb sich ihren Kopf.
„Dian?“, fragte sie benommen. „So trifft man sich wieder! Wo sind wir?“
Ich sah nach draußen. Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, doch in der Ferne türmten sich bereits Wolken zu einem Amboss auf und kündigten ein Unwetter an. Der Wagen fuhr eine Landstraße entlang, welche zwischen einem Wald und einem Acker verlief. Es gab nichts Charakteristisches, was einen genaueren Hinweis auf den Ort gegeben hätte.
Allerdings fand ich ein Indiz. „Ich glaube, wir sind im Frankreich der späten 1930er Jahre.“
Sie sah mich verblüfft an und ich erklärte ihr meine Folgerung. „Das Auto ist ein wunderschöner Citroën Traction Avant, ein Klassiker, der ab 1934 in Frankreich produziert wurde, wenn ich mich nicht irre. Dieser Wagen scheint mir aber fast fabrikneu zu sein. Man riecht sogar noch das Leder.“
Meine Begleiterin tippte dem Chauffeur auf die Schulter. „Wohin fahren wir?“
„Zu Madame und Monsieur Vignaud, Mademoiselle“, gab er emotionslos Auskunft.
„Und das sind?“
„Ihre Tante und Ihr Onkel, Mademoiselle.“
Sie sah mich überrascht an. „Wie es aussieht, habe ich hier Verwandtschaft.“
Wir erreichten eine lange Mauer, fuhren durch ein großes Eisentor und passierten einen kleinen Wald. An dessen Ende konnte man bereits ein Herrenhaus erkennen, das mit seiner verzierten Fassade und einem Turm an der Seite eher an ein Schloss erinnerte.
Je näher wir kamen, desto mehr Details wurden sichtbar. Vor dem Haus lag ein großer halbrunder Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte, der jedoch nicht in Betrieb war und verwahrlost aussah. Ein Gerüst verkleidete einen Teil des Hauses, dem Rest der Fassade stand die Restaurierung noch bevor. Ich sah zum Dach hoch und bemerkte eine riesige Uhr, die über dem Haupteingang in eine Dachgaube eingebaut war und alle Blicke auf sich zog. Man hätte eine Uhr dieser Art an einer Kirche oder Schule erwartet, an diesem Haus sah sie fehl am Platz aus. Außerdem fehlten ihr die Zeiger. Lediglich zwölf Striche für die Stunden und eine Achse in der Mitte verrieten, dass sie einst die Zeit anzeigte.
Vor dem Haupteingang standen bereits unsere Gastgeber und erwarteten uns. Ein Mann und eine Frau in eleganter Kleidung, ich schätzte sie um die 40, winkten uns zu. Neben ihnen standen zwei Teenager-Jungen, offensichtlich Zwillinge, nett herausgeputzt in ihrer besten Sonntagskleidung. Abseits warteten ein Butler und drei Hausmädchen.
Als wir ausstiegen, kam die Dame des Hauses uns mit offenen Armen entgegengelaufen. „Miray, meine Lieblingsnichte!“, rief sie, umarmte sie kräftig und gab ihr einen herzlichen Kuss auf beide Wangen. Der Hausherr folgte und begrüßte seine Nichte etwas steif und distanziert.
„Hallo, Tantchen! Hallo, Onkelchen!“, antwortete Miray irritiert. Für sie waren die Personen in dieser Traumwelt genauso fremd wie für mich. Ich bewunderte, wie sie diese Tatsache zu überspielen versuchte.
„Was für freudige Nachrichten du uns geschrieben hast!“, rief die Tante voller Begeisterung.
Miray warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte vorsichtig mit meinen Schultern.
Die Tante musterte mich, dann wandte sie sich wieder ihrer Nichte zu. „Nett sieht er aus! Magst du uns deinen Verlobten nicht endlich vorstellen?“
Miray sah mich überrascht an. Ich grinste zurück. Es gab härtere Schicksale, jedenfalls aus meiner Sicht.
Meine Verlobte zwang sich zu einem Lächeln, reichte mir ihre Hand und zog mich zu sich. „Selbstverständlich! Wo habe ich bloß meine Manieren gelassen? Das ist Dian, mein Verlobter!“
Sie sah mich an und fuhr fort: „Dian, das sind meine Tante, Madame Vignaud, und mein Onkel, Monsieur Vignaud.“
„Parbleu, bitte nicht so formell!“, protestierte die Tante. „Du darfst uns gerne Zoé und Henri nennen!“ Sie umklammerte mich und gab mir einen Kuss auf beide Wangen, während ihr schweres Parfum mich fast betäubte. „Schließlich gehörst du bald zur Familie.“
Zuerst stellte Zoé mir ihre Söhne vor, die auf die Namen Éric und Frédéric hörten. Lustlos schüttelten sie unsere Hände. Es war offensichtlich, dass sie besseres zu tun hatten, als ihre Cousine nebst Anhang zu begrüßen.
Als nächstes war das Personal an der Reihe. Der Butler, der stets dezent in unserer Nähe stand und auf Anweisungen wartete, hieß Jérôme und war ein älterer, aber immer noch rüstiger Herr. Als Zoé ihn vorstellte, nickte er und begrüßte uns formell. Die drei Dienstmädchen, die momentan hinter dem Citroën standen und sich damit abmühten, unser Gepäck aus dem Kofferraum zu laden, hießen Agnès, Denise und Paule. Den Chauffeur Laurent hatten wir bereits während der Fahrt kennengelernt. Er stand an den Wagen gelehnt und beobachtete auf einem Zahnstocher kauend die Mädchen bei ihrer Arbeit.
Unsere Gastgeberin nahm uns an die Hand. „Meine Nichte ist verlobt, wie romantisch!“, turtelte sie. „Du musst uns beim Dîner unbedingt erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt!“
„Ach, das ist eigentlich eine ganz langweilige Geschichte“, meinte Miray. Zoé ignorierte das und bat uns ins Haus, wo sie uns dem Butler überließ.
Jérôme führte uns über die große Haupttreppe in die obere Etage und leitete uns in einen tristen Korridor. Etliche Türen auf beiden Seiten führten in die Schlafzimmer der Bewohner und ihrer Gäste. Der Anblick erinnerte mich an eine Behörde oder ein Hotel, weniger an ein Herrenhaus.
Wir wurden zuerst in Mirays Zimmer geführt, wo Agnès bereits mit dem Koffer auf sie wartete. Es entsprach allen Klischees, die man an ein Schlafzimmer in einem Herrenhaus haben konnte. Die purpurrote Tapete und der dunkle Teppich erschlugen einen regelrecht. An einer Seite stand ein Himmelbett, dessen weißer Vorhang dekorativ an seine Säulen gebunden war. Gegenüber stand ein schwerer Eichenschrank neben einer zweiten Tür und ein geschlossener Sekretär zwischen den beiden Fenstern. Der Raum wirkte einerseits komfortabel, andererseits unecht und fast wie eine Kulisse.
Jérôme deutete auf die Tür zum benachbarten Zimmer. „Madame hat mir aufgetragen, diese Tür abzuschließen, da Monsieur und Mademoiselle noch nicht verheiratet sind“, erklärte er. Dann räusperte er sich und ergänzte diskret: „Ich fürchte allerdings, ich werde langsam vergesslich.“
Für einen kurzen Moment grinste er selbstzufrieden, bevor er wieder Haltung annahm und mich in das benachbarte Zimmer führte. Es war nahezu identisch eingerichtet. Paule wartete bereits auf mich. Sie knickste kurz und schüchtern, als sie mich sah.
„Agnès und Paule werden Ihnen jederzeit zur Verfügung stehen“, erklärte Jérôme. Dann entschuldigte er sich und verließ uns, um sich um das Dîner zu kümmern.
„Wünschen Sie, dass ich Ihnen beim Auspacken helfe, Monsieur?“, fragte Paule mich. Dankend lehnte ich ab. Ich wusste nicht, was sich in meinem Koffer befinden würde, und wollte es lieber alleine herausfinden. Paule machte einen weiteren Knicks, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Jemand klopfte an die andere Tür. „Dian?“, hörte ich die Stimme meiner Gefährtin. Ich bat sie herein.
„Ist dein Mädchen weg?“
„Ja. Ich wollte meine Sachen lieber ohne sie auspacken.“
„Ich habe Agnès auch weggeschickt. Aber in meinem Koffer war nichts Ungewöhnliches, nur Kleider und was man auf so einer Reise sonst benötigt. Hoffentlich finden wir bei dir einen Hinweis, warum wir überhaupt hier sind.“
Ich öffnete mein Gepäckstück, fand darin aber nichts weiter als einen eleganten Anzug, Sachen für die Nacht, einen Morgenmantel, zeitgemäße Freizeitkleidung und Toilettenartikel.
Fragend sah ich Miray an. „Welche Aufgabe werden wir wohl diesmal lösen müssen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin überzeugt, dass wir es früh genug erfahren werden. Was mir momentan mehr Sorgen macht, ist das Abendessen. Tantchen wird uns wegen unserer Verlobung ausfragen. Wir werden ihr kaum erzählen können, dass wir uns das erste Mal vor etwa 30 Jahren im Orient Express über den Weg liefen.“
„Uns wird sicher spontan etwas einfallen, wenn es soweit ist“, versuchte ich sie zu beruhigen.
Es klopfte an die Zimmertür. Bevor wir antworten konnten, wurde sie bereits aufgerissen und die Zwillinge stürmten herein.
„Maman sagt, wir sollen deinem Verlobten das Haus und den Garten zeigen“, rief Éric aufgeregt.
„Vielleicht könnt ihr uns auch helfen, den Fall zu lösen“, ergänzte Frédéric.
Auf dieses Stichwort hatte Miray gewartet. „Welchen Fall?“, fragte sie aufgeregt.
„Von der Baustelle wurden drei Säcke Zement gestohlen.“
„Zement!“, seufzte sie. „Wir sind hier, um Zementsäcke wiederzufinden.“
Ich musste lachen. „Dann zeigt uns mal den Tatort.“
Die Zwillinge führten uns zur Rückseite des Hauses. Dort sah das Gebäude noch verfallener aus als auf der Vorderseite. Der Putz fehlte teilweise und gab einen Blick auf die nackte Backsteinmauer frei. Ein Teil war eingerüstet. Steine, Zementsäcke und anderes Material lagen in der Nähe.
Wir sahen uns um. Das Haus grenzte an einen Park, der arg vernachlässigt wirkte. Teile waren mit Sträuchern und Unkraut überwuchert. Dahinter folgte ein kleiner Wald, der früher zweifellos zum Spazieren einlud. Ein Dickicht aus Efeu, Sträuchern und totem Gehölz machten dies nun unmöglich.
Zwischen dem Wald und dem Haus lag ein großer See. Ein paar Enten hatten sich hierher verirrt und beobachteten uns argwöhnisch.
Hinter einem Seitentrakt des Gebäudes bemerkte ich einen abgelegenen Schuppen, der ebenfalls bessere Tage erlebt hatte.
„Das war früher ein Pferdestall“, erklärte Éric, der meinen neugierigen Blick bemerkt hatte. „Jetzt steht da unser Auto.“
„Laurent hat dort außerdem eine kleine Werkstatt“, ergänzte Frédéric. „Er ist sehr geschickt.“
Miray ließ der Diebstahl keine Ruhe. „Wer könnte Interesse daran haben, Zement zu stehlen?“, fragte sie die Zwillinge.
„Keine Ahnung“, antwortete Frédéric, „vielleicht das tote Mädchen?“
Sein Bruder gab ihm einen Knuff. „Maman sagt, wir sollen nicht über sie sprechen, wenn wir Gäste haben.“
Jetzt war meine Neugierde geweckt. „Was für ein totes Mädchen?“, fragte ich.
Die Zwillinge drucksten ein wenig herum, bis Frédéric mit der Sprache herausrückte. „Sie ertrank vor vielen Jahren in dem See.“
„Und deshalb stiehlt sie jetzt Zement?“, hakte Miray nach. „Warum sollte sie das tun?“
Frédéric sah verlegen zu Boden. „Weil wir ihren Löwen gestohlen haben.“
„Ihren Löwen?“
Éric nickte. „Vor ein paar Wochen fanden wir am See einen kleinen, verrosteten Löwen.“
„Und wo ist er jetzt?“
„Wir brachten ihn zu Laurent. Er versprach, ihn wieder schön zu machen.“
Jérôme kam auf uns zu. „Das Dîner beginnt in zwei Stunden. Die Herrschaften möchten sich sicherlich vorher frisch machen.“
Das traf sich gut, denn ich hatte einen gewaltigen Hunger.
Wir kehrten ins Haus zurück. Miray ging auf ihr Zimmer, um sich für den Abend vorzubereiten. Ich musste vorher noch auf die Toilette. Jérôme verwieß mich an eine unscheinbare Tür am Ende des Korridors.
Das Badezimmer war nicht weniger seltsam als der Rest des Gebäudes. Ich tastete nach dem Lichtschalter und betätigte ihn. Eine einzelne große Glühlampe an der Decke tauchte den Raum in ein schummriges warmes Licht. Schmucklose weiße Fliesen kleideten den fensterlosen Raum bis zur Decke. Ich bemerkte vier Waschbecken an der einen und stolze sechs Toilettenkabinen an der anderen Wand. Hinter einem zurückgezogenen Vorhang standen zwei Badewannen auf altmodischen Füßchen. So einen Waschraum hätte ich in einer Jugendherberge erwartet. In diesem Herrenhaus wirkte er völlig deplatziert.
Eilig verrichtete ich mein Geschäft und kehrte in mein Zimmer zurück, um mich umzuziehen. In meinem Koffer fand ich einen eleganten Anzug, der für das Abendessen angemessen schien. Er passte wie maßgeschneidert.
Als alles richtig saß, klopfte ich bei meiner Verlobten an. „Ich bin gleich da!“, rief sie. Wenige Augenblicke später öffnete sie die Tür und stand vor mir. Sie trug ein elegantes nachtblaues Abendkleid, das prächtig funkelte. Die Ärmel reichten bis zu den Handgelenken und ein tiefer Ausschnitt ließ Platz für eine kleine Diamantkette. Ihre kurzen Haare hatte sie festlich zurechtgemacht und ihr Gesicht dezent geschminkt. Bei dem Anblick bedauerte ich es, dass wir nicht wirklich verlobt waren. Sie sah wunderschön aus.
„Begleitest du mich zum Essen, mon cher?“, fragte sie mich und hielt mir galant ihre Hand hin. Ich nickte und sie hakte sich unter meinem Arm ein. Gemeinsam gingen wir die große Treppe hinab und betraten das Esszimmer, wo die Familie Vignaud bereits am Tisch saß. Ihr Gespräch verstummte, als wir eintraten. Alle Augen waren auf uns gerichtet.
Zoé brach schließlich die Stille. „Ihr seid wahrhaftig ein wundervolles Paar!“, rief sie und applaudierte. Wir bedankten uns und nahmen ihr gegenüber an der Tafel Platz.
Die drei Dienstmädchen servierten den ersten Gang, eine köstlich duftende Zwiebelsuppe, in dessen Mitte eine mit einer dicken Schicht Käse überbackene Scheibe Brot schwamm. Während wir uns hungrig darüber hermachten, füllte Jérôme unsere Gläser mit Wein.
Wir begannen das Tischgespräch mit Smalltalk über das Wetter und unsere Reise, doch Zoé sah uns ununterbrochen und neugierig an. Es war offensichtlich, dass sie uns bald die unvermeidliche Frage stellen würde. Ich musste ihr mit einem Thema zuvorkommen, das unsere Gastgeber zu einem längeren Monolog zwang.
„Zoé, verzeihen Sie meine Neugierde, aber ich bemerkte, dass dieses Herrenhaus ein wenig ungewöhnlich ist.“
„Inwiefern?“
„Da ist zum Beispiel diese für ein Landhaus ungewöhnliche Uhr auf dem Dach. Oder der Korridor mit den vielen Schlafzimmern und dem riesigen Waschraum am Ende.“
„Das hast du gut beobachtet, Dian“, lobte mich unsere Gastgeberin. „Das Gebäude war ursprünglich ein Mädcheninternat für die gehobene Schicht.“
„Warum wurde es geschlossen?“, fragte Miray. „Hängt es mit dem ertrunkenen Mädchen zusammen?“
Zoé warf ihren Söhnen einen grimmigen Blick zu. „Wie ich höre, konnten zwei Plappermäuler ihre Münder nicht halten.“
Dann fuhr sie fort: „Ja, das stimmt! Das Mädchen hatte sich eines Nachts aus ihrem Zimmer geschlichen. Am nächsten Morgen fand man sie tot im See.“
Frédéric ließ es sich nicht nehmen, die Geschichte fortzusetzen: „Es stand in allen Zeitungen! Die Polizei hielt es für einen Unfall. Und doch kamen kurz darauf die Eltern vorbei und holten ihre Töchter ab.“
Zoé sah ihren vorlauten Sohn missmutig an, und er verstummte verlegen. Nun war es ihr Mann Henri, der die Geschichte fortsetzte. „Der Ruf des Internats erholte sich nicht mehr davon. Ein paar Monate später musste es schließen. Das Gebäude stand seitdem viele Jahre lang leer und verfiel langsam.“
„Vor vier Jahren kaufte Henri es“, knüpfte Zoé stolz an. „Wir tauften es Manoir de Vignaud und begannen, es zu restaurieren. Das Dach musste abgedichtet werden. Ein Teil der Räume wurde bereits umgestaltet, um einem Manoir würdig zu sein. Momentan lassen wir die Fassade und den Rest der oberen Etage herrichten. Aber es gibt noch so viel zu tun, wie ihr sicherlich bemerkt habt.“
Sie seufzte.
„Es heißt“, ergänzte Éric aufgeregt, „der Geist des toten Mädchens würde auf diesem Anwesen spuken.“
Zoé schlug mit der Hand auf den Tisch. „Genug jetzt, Éric, Frédéric! Ihr macht eurer Cousine Angst mit solchen Geschichten.“
Der erste Gang war beendet. Agnès und Denise deckten das schmutzige Geschirr ab, während Paule den nächsten Gang auf einem Servierwagen hereinrollte.
„Eine Spezialität unserer Köchin“, rief Zoé erfreut, „hausgemachte Boudin Noir!“
Paule stellte mir einen Teller hin, auf dem mehrere Scheiben dunkel gebratener Wurst, eine Portion Kartoffelpüree mit Röstzwiebeln und karamellisierte Apfelscheiben angerichtet waren. Ich hatte solch ein Gericht noch nie gegessen, aber es schmeckte so köstlich, dass Denise mir noch eine weitere Portion anreichen musste.
Zoé nutzte den Moment unserer Unaufmerksamkeit. „Miray, Dian, ihr müsst uns endlich erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt! Und wann die Hochzeit stattfindet! Wir sind doch sicher eingeladen?“
Miray trank einen großen Schluck Wein und sah verlegen in die Runde. Dann räusperte sie sich und fing an. „Wir trafen uns in London, und zwar…“
Sie warf mir einen hilflosen Blick zu. Ich verstand den Wink und setzte die Geschichte fort: „Und zwar bei einem Pokerturnier. Wir hatten Runde um Runde gegen Gegner aus aller Welt gewonnen, bis das Schicksal uns im Achtelfinale zusammenführte, wo wir gegeneinander antreten mussten. Wir lieferten uns ein hartes Duell und zunächst lief es auch sehr gut für Miray.“
„Doch dann?“, fragte Zoé gespannt. Sie hing an unseren Lippen.
„Dann“, sagte Miray und schob eine dramatische Pause ein, „dann wurde ich leichtsinnig, pokerte zu hoch und Dian wollte sehen.“ Sie blickte mir tief in die Augen. „Ich verlor alles. Aber was bedeutet schon Geld, wenn ich an jenem Abend sein Herz gewinnen konnte?“
Sie schmunzelte mich frech an. Um ein Haar hätte ich laut losgelacht und damit das Märchen auffliegen lassen, das wir unseren Gastgebern so schamlos aufgetischt hatten. Wir sahen Zoé an. Sie machte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, der einerseits Rührung verriet, uns andererseits keinen rechten Glauben schenken wollte. Schließlich lächelte sie zufrieden.
„Das sind die Geschichten, wie sie nur das Leben schreibt, nicht wahr, Henri?“, fragte sie ihren Mann. Als er gerade antworten wollte, schallte ein spitzer Schrei durch das Haus.
Wir sahen uns erschrocken an. „Das war Paule!“, rief Denise, ließ die schmutzigen Teller auf ihren Servierwagen fallen und rannte hinaus. Wir sprangen von unseren Plätzen auf und liefen hinterher.
Paule war am Fenster des Salons zusammengesackt. Ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren. Als wir dazukamen, kniete Denise bereits neben ihr und fächerte ihr Luft zu.
Jérôme ging zu den beiden Mädchen. „Was soll dieses Theater?“, fragte er schroff.
Paule zeigte mit zitternder Hand nach draußen. „Der Geist!“, rief sie. „Am See! Der Geist des toten Mädchens!“
Wir liefen zu den Fenstern und starrten hinaus. Im Mondschein konnte man deutlich eine Gestalt am See erkennen. Sie trug ein zerfetztes weißes Kleid und schritt langsam am Ufer entlang. Als sie die Bäume erreichte, verdunkelte eine Wolke die Szene. Einen Moment später war die Erscheinung verschwunden.
Henri war kreidebleich. „Das kann nicht sein!“, stammelte er schließlich. Auch Zoé sah fassungslos in den Garten.
Die Zwillinge dagegen freuten sich sichtlich. „Habe ich es nicht gesagt, Cousine?“, triumphierte Éric und stieß Miray an, während Frédéric den See nicht aus den Augen ließ und auf eine Zugabe hoffte.
Dann sahen wir, wie der Butler zum See eilte und sich dort umschaute. Schließlich blickte er zum Haus und warf resigniert seine Hände in die Luft, bevor er zu uns zurückkehrte.
Den Rest des Abends verbrachten wir schweigend. Jeder war in Gedanken versunken. Paule stand apathisch in einer Ecke des Esszimmers, bis Jérôme den Anblick nicht mehr ertragen konnte und sie in die Küche schickte. Er und die beiden anderen Mädchen servierten still den letzten Gang, eine Crème Brûlée. Die Anspannung war im Raum greifbar. Als mir mein Löffel aus der Hand fiel, zuckten alle zusammen und sahen mich vorwurfsvoll an.
Nachdem wir fertig gegessen hatten, beschlossen wir, den Abend zu beenden. Die Feierlaune war uns allen vergangen.
Ich lag in meinem Bett und konnte nicht schlafen. Dichte Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und legten das Zimmer in völlige Dunkelheit. Das Haus war fremd und alt. In seinem Gemäuer knackte und krachte es, während es vom heißen Tag langsam abkühlte. Meine Gedanken kreisten um die Frage, was unsere Aufgabe sein mochte. Zweifellos war der Spuk am See ein Teil davon. War es wirklich der Geist des ertrunkenen Mädchens, den wir dort gesehen hatten?
Für eine Weile schlummerte ich ein, bis ich von einem auffrischenden Wind geweckt wurde, der durch die Fensterritzen pfiff und an den Scheiben rappelte. Ein tiefes Grollen kündigte das Gewitter an, das bereits den ganzen Tag am Horizont gelauert hatte. Es zog schnell näher. Im grellen Licht eines Blitzes erkannte ich aus dem Augenwinkel die Silhouette einer Person im Raum. Mein Blut gefror in den Adern. Wie angewurzelt starrte ich in die Ecke, bis ein weiterer Blitz enthüllte, dass es sich bloß um meinen Morgenmantel handelte.
„Reiß dich zusammen“, tadelte ich mich. „Du benimmst dich wie ein kleines Kind, das Angst vor Gewitter hat.“
Ich drehte mich auf die andere Seite und versuchte, endlich einzuschlafen.
Die große Standuhr im Salon schlug ein Uhr. Wenige Sekunden später erschütterte ein lauter, dumpfer Schlag das ganze Haus. Ich saß aufrecht im Bett, mein Herz raste wie wild. Weitere Schläge folgten in einem langsamen, groben Rhythmus. Sie klangen wie die Schritte eines Giganten.
Ich schaltete das Nachtlicht ein und sprang aus dem Bett. Meine Knie knickten zusammen, sie waren weich wie Gummi. Ich stützte mich auf dem Nachttisch ab, zwang mich zurück auf die Beine und rannte auf den Korridor. Zoé stand bereits an ihrer Tür, ihren Nachtrock tragend, und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Hinter ihr stand Henri und zog sich gerade seinen Morgenmantel über sein Schlafgewand.
Die Tür neben mir öffnete sich und Miray sah in die Runde. „Hat jemand geklopft?“, versuchte sie zu scherzen.
Der nächste dumpfe Schlag erschütterte das Gemäuer und schallte wie ein tiefes Echo durch das ganze Haus.
Éric und Frédéric erschienen an ihren Zimmertüren. „Was ist das für ein Lärm?“, fragte einer von ihnen verschlafen.
„Steckt ihr dahinter?“, befragte Zoé ihre Söhne. Diese schüttelten energisch den Kopf.
Ein weiterer Schlag erschütterte das Haus.
Nun hörten wir Schritte, die auf uns zugelaufen kamen. Es waren die drei Dienstmädchen, gefolgt von einem nach Luft hechelnden Butler und dem Chauffeur. Sie mussten ihre Mansardenzimmer in Panik verlassen haben, denn sie trugen alle ihre Schlafkleidung.
„Was ist das?“, fragte Zoé in die Runde.
„Ich weiß es nicht, Madame“, antwortete Jérôme aufgeregt.
„Das Geräusch scheint von überall herzukommen, Madame“, ergänzte Laurent. „Man hört es im ganzen Haus.“
„Das ist sicher das Gespenst!“, rief Frédéric aufgeregt. Paule kreischte bei dem Gedanken und fiel Denise in die Arme, welche sie tröstend festhielt und den Jungen vorwurfsvoll ansah.
Miray und ich gingen zur großen Treppe, Jérôme und Laurent folgten uns. Dort warteten wir auf die nächste Erschütterung, die prompt kam.
„Hier scheint es lauter zu werden“, stellte Miray fest. „Teilen wir uns auf. Jérôme und Laurent, Sie gehen nach unten! Wir werden uns auf dieser Etage umsehen.“ Sie nickten und eilten die Treppe hinab.
Wir öffneten eine provisorische Lattentür und betraten den Teil des Gebäudes, der gerade renoviert wurde. Miray tastete nach einem Lichtschalter. Als sie ihn fand und betätigte, erhellten ein paar trübe Glühlampen, die an einfachen Kabeln von der Decke baumelten, die Baustelle. Die Bauarbeiter hatten den alten Putz von den Wänden geschlagen und das darunter liegende Backsteinmauerwerk freigelegt. Der Boden bestand aus schmucklosen Dielenbrettern, auf denen eine dicke Staubschicht und Schutt lagen. Erneut erschütterte das Stampfen das Haus und ließ ein wenig Putz herabrieseln. Ich bekam Gänsehaut.
Vorsichtig schritten wir durch die Baustelle. Das Geräusch schien lauter zu werden, je näher wir dem Turm kamen. Dann gab es eine letzte Erschütterung, bevor wieder Ruhe einkehrte. Entfernt hörte man nur noch das Grollen des abziehenden Gewitters.
Eine Weile warteten wir noch ab, ob der Spuk wirklich vorbei war. Dann kehrten wir zu den Vignauds zurück, die uns bereits mit sorgenvollen Gesichtern erwarteten. Der Butler und der Chauffeur folgten uns kurz darauf.
„Unten war nichts, Mademoiselle“, meldete Laurent, „und bei Ihnen?“
„Auch nichts“, berichtete Miray ratlos. „Wir sollten versuchen, ein wenig Schlaf zu finden. Morgen werden wir der Ursache auf den Grund gehen.“
Wir gingen zurück auf unsere Zimmer. Ich legte mich in mein Bett, schaltete das Licht aus und starrte auf den Baldachin. Nach diesem unheimlichen Ereignis war an Schlafen nicht zu denken. Als ich meinen Kopf zur Seite drehte, sah ich durch den Spalt unter der Zwischentür, dass in Mirays Zimmer noch Licht brannte. Ich klopfte leise an und wurde hineingebeten.
Miray saß in ihrem Bett und sah zu mir. Ihren Morgenmantel hatte sie über den Stuhl des Sekretärs geworfen. Sie trug nun ein weißes Schlafkleid. Zum ersten Mal sah ich sie in kurzen Ärmeln und sofort fiel mir ihre kräftige Armmuskulatur auf. Auf ihrem linken Oberarm war außerdem eine Narbe zu erkennen, die von einer alten Verletzung stammen musste.
„Dian, ich schätze, das ist jetzt nicht der richtige Moment für ein Techtelmechtel unter Verlobten“, sagte sie und grinste frech.
Ich stimmte ihr zu. „Was meinst du, was das war?“
„Keine Ahnung! Aber es muss eine rationale Erklärung geben. Oder glaubst du an Gespenster?“
„Eigentlich nicht, aber diese Traumwelten haben an sich schon nichts Rationales.“
Miray nickte und gähnte herzhaft. „Die Geisterstunde ist jetzt hoffentlich vorbei, ich bin hundemüde. Lass uns morgen weitermachen.“
Verlegen blickte ich auf ihr Bett. Ich hatte Angst, alleine zu schlafen, aber ich konnte meine Begleiterin unmöglich fragen, ob sie mich unter ihre Decke kriechen lässt. Also wünschte ich ihr eine gute Nacht, ging in mein Zimmer zurück und schloss leise die Tür. Vom Bett aus starrte ich noch eine Weile auf den Lichtspalt, bis dieser erlosch. Kurz darauf schlief ich ein.
Am nächsten Morgen schien die Sonne in mein Zimmer und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht wie die Erinnerung an einen schlechten Traum erscheinen. Ich blickte aus meinem Fenster und sah, dass meine Verlobte bereits wach war und in improvisierter Sportkleidung im Garten joggte. Wiederholt musste sie dabei den großen Pfützen ausweichen, die der nächtliche Gewitterregen hinterlassen hatte.
Mein Magen knurrte, also machte ich mich frisch und ging hinunter, um zu frühstücken. Im Salon traf ich Jérôme, der mich mit Ringen unter den Augen ein wenig gequält ansah. „Das Frühstück wird auf der Terrasse serviert, Monsieur“, sagte er und wies auf eine offene Verandatür. Dort saßen Henri und Zoé bereits am Tisch und begrüßten mich mit kratziger Stimme. Paule knickste ungeschickt und half mir auf meinen Stuhl, während Denise eine Kanne Kaffee von einem Servierwagen nahm. Dabei stieß sie eine Tasse um, welche zu Boden fiel und zersprang. Agnès sah sie vorwurfsvoll an und ging los, um ein Kehrblech zu holen.
Ein paar Minuten später betrat Miray die Terrasse und setzte sich neben mich. „Ich hoffe, ihr habt mir noch etwas übriggelassen“, sagte sie gut gelaunt und nahm sich ein Croissant. Von uns allen schien sie die Nacht am besten überstanden zu haben, vielleicht abgesehen von den Zwillingen, die immer noch schliefen.
Laurent kam vom Seitenflügel aus zu uns gerannt. „Monsieur! Madame!“, rief er aufgeregt. „Kommen Sie schnell! Das müssen Sie sehen!“
Wir sprangen auf und folgten ihm. Er führte uns zur abgewandten Seite des Flügels. Dort blieb er stehen und deutete auf die Hauswand. Mit großen, roten Lettern stand dort der Name ELODIE auf den Putz geschmiert.
Henri wurde blass. „Soll das ein schlechter Scherz sein?“, rief er empört und stampfte ins Haus zurück.
„Ist das der Name des toten Mädchens?“, fragte Miray.
Zoé sah ihrem Mann besorgt hinterher. Dann schüttelte sie ihren Kopf. „Nein, das tote Mädchen hieß Claire. Elodie sagt mir überhaupt nichts.“
Wir kehrten zum Frühstückstisch zurück und sättigten uns gedankenverloren. Danach gingen Miray und ich auf mein Zimmer, wo sie schweigend aus dem Fenster sah.
„Was für ein Abenteuer“, seufzte ich. „Wir haben ein Gespenst am See, dieses markerschütternde Poltern in der Nacht und nun diesen Namen an der Hauswand.“
„Den falschen Namen, nicht den des Mädchens, das im See ertrank. Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn!“
Sie ließ sich auf mein Bett fallen und ich setzte mich neben sie. Gemeinsam starrten wir Löcher in die Luft.
„Miray?“, fragte ich schließlich. „Was wird passieren, wenn wir es nicht schaffen, die Aufgabe zu lösen? Werden wir dann für immer in diesem Traum gefangen bleiben?“
Sie sah mich mit ihren eisblauen Augen an und schien sich ihre Antwort gründlich zu überlegen. Dann sprang sie unvermittelt auf. „So weit ist es noch nicht, Dian! Ich bin überzeugt, dass wir für diesen Spuk eine Erklärung finden werden.“
Wir gingen die große Treppe zur Eingangshalle hinab, als es an der Tür klingelte. Agnès eilte herbei und öffnete einem Mann, etwa 40 Jahre alt, wohlhabend gekleidet, von kräftiger Statur und mit rot aufgedunsenem Gesicht. Er nahm seine Zigarre aus dem Mund und bließ dem Mädchen eine Rauchwolke ins Gesicht.
„Du hast dir reichlich Zeit gelassen, Kindchen!“, knurrte er. „Los, bring mich zu deinem Herren, er erwartet mich bereits.“
„Wen darf ich melden?“
„Wen du melden darfst? Mein Name ist Farges!“
Agnès knickste und führte den Besucher in den Salon, bevor sie sich entfernte. Wir gingen die Treppe hinab und beobachteten ihn aus sicherer Entfernung. Er stolzierte in dem Raum herum wie ein Gockel im Hühnerstall.
Als Paule eintrat, wies er sie schroff an, ihm einen Cognac zu bringen, und gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Sie knickste artig und eilte davon. „Aber von dem guten“, rief Farges ihr hinterher, „nicht diesen Fusel, den Henri seinen Gästen serviert!“
Dann bemerkte er uns. Als er Miray sah, grinste er breit, legte seine Zigarre in einen Aschenbecher und strich sich sein schütteres Haar glatt.
„Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen!“, rief er erfreut und ging auf sie zu. „Antoine Farges, Makler, für Sie gerne Antoine. Und wie lautet Ihr bezaubernder Name, Mademoiselle?“
„Miray“, stellte sie sich wenig entzückt vor, „ich bin die Nichte von Madame und Monsieur Vignaud.“
„Enchanté“, säuselte er, griff ihre Hand und gab ihr einen angedeuteten Handkuss. Danach warf er mir einen kurzen, abfälligen Blick zu. „Das ist Ihr Bruder, nehme ich an?“
„Nein, das ist Dian, mein Verlobter.“
Das ölige Grinsen fiel augenblicklich aus seinem Gesicht.
In dem Moment kehrte Paule mit einem Tablett zurück, auf dem ein gut gefüllter Cognacschwenker stand. Farges nahm ihn, probierte einen Schluck und murrte: „Na ja, der ist akzeptabel.“
Das Mädchen machte einen Knicks und stellte sich diskret in eine Ecke, wo sie auf neue Anweisungen wartete.
Farges nahm einen weiteren Schluck und musterte mich von oben bis unten. „Ihr Verlobter also? Er sieht aus wie ein armer Schlucker, Mademoiselle Miray. Verschwenden Sie sich nicht an so einen Taugenichts! Sie haben etwas Besseres verdient.“
„Sie denken dabei vermutlich an sich?“
Farges nickte gönnerhaft. „Warum sollten Sie sich auch mit weniger zufriedengeben?“
„Was für ein großzügiges Angebot“, bedankte sich Miray und machte einen Schritt auf Farges zu. „Allerdings gibt es da ein Problem. Ich pflege keinen Umgang mit Rüpeln, denen es an Respekt, Verstand und guten Manieren fehlt.“
Das saß. Farges Kopf wurde rot vor Wut. Drohend hob er seine Hand, aber Miray rührte sich nicht und sah ihm direkt in die Augen. Sie schien geradezu zu hoffen, dass er ihr eine Ohrfeige verpassen würde. Seine Hand zitterte, dann kapitulierte er, schüttete den Cognac in sich hinein und rief zu Paule: „Gibt es in diesem verdammten Haus nichts zu trinken? Kleine, bring mir gefälligst die ganze Flasche!“
In diesem Moment betrat Agnès den Salon und führte Farges in Henris Arbeitszimmer. Wir sahen uns gegenseitig an, überrascht von der Vorstellung, die uns eben geboten wurde.
„Das war sehr mutig von Ihnen, Mademoiselle“, flüsterte Paule aus ihrer Ecke. Sie zitterte am ganzen Körper. „Es schien, als ob Sie gar keine Angst vor dem Monsieur hatten!“
Miray kicherte kurz. „Angst vor diesem Maulheld, Paule? Seine Autorität ist alles, was er hat. Dass er Widerworte bekommt, dürfte eine neue Erfahrung für ihn gewesen sein.“
Wir gingen in den Garten, um Spuren zu suchen. Den Anfang machte der See. Er sah so verwahrlost aus wie der Rest des Anwesens. Das Wasser war trüb und zum großen Teil mit Schilf und Binsen überwuchert. Ein schmaler Fußpfad, der völlig verwildert war, führte am Ufer entlang.
„Wenn es Spuren gab, wurden sie vom Gewitterregen verwischt“, stellte Miray resigniert fest. „Hier kommen wir nicht weiter. Lass uns die Hauswand untersuchen.“
Am Seitenflügel stand der Name immer noch mit großen Lettern an die Wand geschmiert. Die Schrift, die am Morgen tiefrot auf mich wirkte, hatte nun einen bräunlichen Farbton angenommen. Meine Begleiterin befeuchtete ihren Finger und wischte ihn durch die Farbe. Dann betrachtete sie sich das Ergebnis und murmelte schließlich: „Das bringt uns auch nicht wirklich weiter.“
Ich war anderer Meinung. Miray hatte sich so sehr in ihre Spurensuche verrannt, dass ihr offenbar eine wichtige Eigenschaft unseres unangenehmen Besuchers entgangen war. „Es kann nur Farges sein“, sprach ich meinen Verdacht laut aus.
„Farges? Wie kommst du darauf?“
„Er sagte vorhin, er ist Makler. Sicherlich hat er einen Interessenten für das Haus und versucht nun, mit dem Spuk den Preis zu drücken. Vielleicht will er es sogar für sich selbst.“
„Du meinst, er spielte das Gespenst am See?“
Ich nickte. „Und an die Wand schmierte er irgendeinen Namen. Die Wirkung verfehlte es nicht.“
„Der Name wurde mit Tierblut geschrieben, vermute ich. Das kann eigentlich nur hier aus der Küche stammen.“
„Aus der Küche? Wie kommst du darauf?“
„Die hausgemachten Boudin Noir gestern Abend, erinnerst du dich?“
„Ja, was ist damit?“
„Das ist gebratene Blutwurst!“
„Igitt!“, rief ich und sah sie entsetzt an. „Das hast du mich essen lassen?“
„Es schien dir vorzüglich zu schmecken, so wie du es reingeschaufelt und sogar noch einen Nachschlag genommen hast.“
Sie hämmerte mit ihrer Faust gegen die Wand, doch diese zeigte sich davon gänzlich unbeeindruckt. „Was ist mit den Erschütterungen? Sie kamen eindeutig aus dem Inneren des Hauses.“
„Das werden wir sicher auch noch herausfinden.“
Als wir in der Nacht nach der Quelle des Polterns suchten, hatten wir den Eindruck, dass es lauter wurde, je näher wir dem Turm kamen. Also entschlossen wir uns, dort mit der Suche anzufangen. Im Inneren des Turmes befand sich eine steinerne Wendeltreppe. Wir gingen sie hinauf und fanden an ihrem Ende eine alte Holzleiter, die zur Turmspitze führte.
Miray hatte plötzlich alle Farbe aus ihrem Gesicht verloren und starrte ängstlich zur Luke am oberen Ende. „Dian“, sagte sie mit zitternder Stimme, „bitte sei so nett und gehe alleine die Leiter hoch. Machst du das?“
Ich sah sie überrascht an. Wo war die mutige Miray hin, die sich vorhin noch mit einem kräftigen Mann angelegt hatte?
„Du hast Höhenangst?“, fragte ich besorgt.
Sie nickte verlegen.
„Dann lass mich das machen.“
Ich stieg die Leiter hoch und gelangte in einen kreisrunden, ungenutzten Raum unter dem offenen Gebälk des Kegeldaches. Eine Fensterreihe gestattete einen Rundumblick über den See und den Park. Einige Scheiben waren von der Witterung zerbrochen. Scherben sowie der Unrat von Tauben und Fledermäusen lagen auf dem Boden. Der intensive Geruch nach Exkrementen und Staub nahm mir fast den Atem.
„Hier oben war schon lange niemand mehr“, rief ich hinunter und musste husten. „Lass uns verschwinden.“
Ich stieg die Leiter wieder hinab. Neben ihr befand sich eine alte Holztür, die sich quietschend und knarrend öffnen ließ und den Weg zum Dachboden frei machte. Wir suchten nach einem Lichtschalter, doch der Speicher war nicht elektrifiziert. Durch ein paar ovale Gaubenfenster mit blinden Scheiben fiel etwas Licht in den Raum. Alte und rostige Bettgestelle, Wandtafeln, Schulbänke und weiteres Mobiliar aus der Zeit des Internats waren dort abgestellt. Entfernt hörten wir leise das Uhrwerk der Dachuhr langsam und gleichmäßig ticken.
„Hier ist nichts außer Gerümpel“, stellte Miray fest. „Vielleicht kamen die Erschütterungen aus dem Keller.“
Wir schlossen die Tür und stiegen die Wendeltreppe hinab bis in das Kellergewölbe. Es war ein Labyrinth von Gängen und Kammern, die mit Vorräten und Weinflaschen gefüllt waren. Kabel und Rohre zogen sich wie Adern an Wänden und Decken entlang. Doch auch hier fanden wir nichts, was den nächtlichen Lärm verursacht haben konnte.
Über eine Eisentür, die sich nur von innen öffnen ließ, erreichten wir an einer abgelegenen Seite des Gebäudes wieder den Garten. Frustriert setzten uns auf den Rand des Springbrunnens.
„Wir kommen einfach keinen Schritt weiter“, seufzte Miray.
Ich nickte. „Meinst du, Jérôme kann uns zur Stärkung etwas Kaffee und Kuchen bringen?“
„Sag bloß, du hast schon wieder Hunger!“
Sie blickte auf die Dachuhr, dann knurrte sie missmutig: „Diese blöde Uhr ohne Zeiger macht mich völlig verrückt.“
Plötzlich sprang sie auf und starrte auf das Dach.
„Verdammt! Wir sind solche Idioten!“, rief sie. „Wer macht sich die Mühe, eine Uhr aufzuziehen, die gar keine Zeiger hat?“
Wir eilten wieder den Turm hinauf, betraten den Dachboden und fanden das Uhrwerk in einer dunklen Ecke. Es war ein offenes Metallgerüst mit etlichen Zahnrädern, die sich fast unsichtbar langsam bewegten. Ein langes Pendel schwang hin und her, und ein kleines Zifferblatt zeigte die Zeit an.
Neben der Uhr stand ein provisorisch zusammengezimmertes Holzgerüst, welches oben mit Brettern ausgestattet war, die wie Klappen aussahen. Auf den Brettern lagen große Zementklumpen. Jede Klappe wurde von einem Riegel fixiert, Zahnräder und Ketten verbanden diese Riegel mit der Uhr.
„Da haben wir das Gespenst!“, jubelte ich. „Das Schlagwerk wurde manipuliert. Es betätigt die Klappen und die Gewichte fallen nacheinander herunter.“
„Und alles wurde schon für eine weitere Geisterstunde in der kommenden Nacht vorbereitet“, ergänzte Miray. „Jetzt schau mal dort!“
Sie deutete auf eine Ecke neben dem Uhrwerk. Jemand hatte dort ein altes, zerfranstes Kleid, einen Pinsel in einer Schale mit getrocknetem Blut und ein paar leere Säcke Zement liegen lassen.
„Wie es aussieht, haben wir das Versteck unseres Schlossgespenstes gefunden, Dian. Kannst du die Mechanik irgendwie lahmlegen?“
Ich deutete auf einen kleinen Hebel an der Uhr. „Damit kann das Schlagwerk abgeschaltet werden, das müsste reichen.“
„Es wäre besser, wenn unser Gespenst nicht erfährt, dass wir sein Geheimnis entdeckt haben.“
Ich überlegte kurz. „Ich könnte die Kette vom Zahnrad nehmen. Dann sieht es so aus, als wäre sie abgesprungen.“
Miray nickte. „Sehr gut! Wie es aussieht, haben wir einen Plan. Heute Abend werden wir alles vorbereiten und uns dann auf die Lauer legen.“
Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, die Nacht auf dem dunklen Speicher zu verbringen, aber es war tatsächlich der einfachste Weg, die Person hinter dem Spuk zu überführen.
Nach dem Dîner zogen wir uns unter dem Vorwand, von der letzten viel zu kurzen Nacht übermüdet zu sein, und unter dem süffisanten Grinsen von Tante Zoé, welche uns diese Ausrede nicht abkaufte, früh auf unsere Zimmer zurück.
Leider hatten wir keine Taschenlampe in unserem Gepäck. Wir nutzten also das Dämmerlicht, um uns durch die Baustelle bis zum Turm und dann in die Dachkammer zu schleichen.
Bei den schlechten Lichtverhältnissen war es gar nicht so einfach, die Mechanik lahmzulegen. Ich nahm die Kette vom Zahnrad herunter und arrangierte sie so, dass es nach einem Defekt aussah. Miray hatte in der Zwischenzeit ein altes Bettgestell in eine Ecke geschoben, eine Matratze daraufgelegt und zur Tarnung zwei Schulbänke davorgestellt.
„Jetzt heißt es warten“, sagte sie und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Wir zogen uns die Schuhe aus und legten uns nebeneinander auf das quietschende Bett.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen, durch die ovalen Gaubenfenster fiel nur noch ein wenig fahles Mondlicht. Das gleichmäßige Ticken des Uhrwerks hatte eine beinahe hypnotische Wirkung auf mich. Ab und zu hörte ich das leise Kratzen und Scharren einer Maus.
Mit fortschreitender Nacht kühlte der Speicher zunehmend ab. Wir schmiegten uns aneinander, um uns gegenseitig ein wenig zu wärmen. Es gab mir ein wohliges Gefühl von Sicherheit, Miray dicht neben mir zu spüren. So unheimlich die Situation war, in der wir uns befanden, so sehr hoffte ich trotzdem, dass sie nicht so bald enden würde.
Als es schließlich ein Uhr war, fing das Uhrwerk an, laut zu rasseln. Die Mechanik mit den Gewichten blieb jedoch bewegungslos.
„Kein Spuk heute Nacht“, flüsterte Miray mir zu.
„Ja, das wird unserem Schlossgespenst nicht gefallen“, flüsterte ich zurück. „Ich bin gespannt, wer jetzt kommen und nachschauen wird.“
Doch es kam niemand. Irgendwann hörte ich Miray leise schnarchen. Ich entschloss mich, sie schlummern zu lassen, bis ich etwas hören würde. Dann fiel auch ich in einen traumlosen Schlaf.
Ein Schütteln weckte mich und ich schlug die Augen auf. Das sanfte Licht der Morgendämmerung fiel durch die Fenster in die staubige Luft der Dachkammer.
„Wach auf, Dian!“, sprach meine Gefährtin leise. „Ich glaube nicht, dass unser Gespenst jetzt noch kommen wird. Lass uns wieder nach unten gehen.“
Ich stand auf, reckte mich und ging zum Uhrwerk. Die Kette lag immer noch neben dem Zahnrad und die Gewichte auf dem Holzgerüst. Wer immer das konstruiert hatte, hatte zweifellos handwerkliches Geschick und hervorragende Kenntnisse in Mechanik.
Auf meinem Weg zurück zum Bett trat ich in etwas Spitzes und schrie laut auf.
„Was ist los?“, rief Miray erschrocken.
„Es war leichtsinnig von mir, hier in Socken herumzulaufen“, schimpfte ich und zog einen kleinen, runden Holzsplitter aus meinem Fuß. „Zum Glück war es kein rostiger Nagel.“
„Lass mal sehen“, bat sie mich. Ich gab ihr den Splitter und sie sah ihn sich gründlich an. Dann grinste sie breit. „Du hast gerade das fehlende Stück im Puzzle gefunden. Jetzt weiß ich, wer unser Nachtgespenst ist.“
„Wegen des Splitters?“
„Das ist kein Splitter, das ist ein abgebrochener Zahnstocher, auf dem herumgekaut wurde.“
„Es ist Laurent!“, rief ich überrascht aus. „Er kaute auf einem Zahnstocher, während die Zimmermädchen unser Gepäck aus dem Wagen holten.“
„Richtig! Er war außerdem nicht anwesend, als das Gespenst am See erschien. Er hat Zugang zum Turm und zur Küche, ohne Verdacht zu erregen. Und er ist kräftig und geschickt genug, um so eine Höllenmaschine zu bauen.“
„Endlich haben wir eine heiße Spur! Was machen wir jetzt?“
„Jetzt nutzen wir die Gunst der frühen Stunde und werden den alten Stall durchsuchen, bevor Laurent dort auftaucht. Vielleicht finden wir weitere Hinweise.“
Wir verließen die Dachkammer und gelangten durch den Keller in den Garten. Als wir uns dem Stall näherten, bemerkten wir, dass die Tür offen stand. Sie führte in eine kleine Werkstatt. Neben einer massiven Tischbohrmaschine, die den Blick auf sich zog, hingen Werkzeuge säuberlich aufgereiht an der Wand. In einem Regal lagerten verschiedene Hölzer, Steine und weitere Materialien. Gegenüber stand ein Tisch vor einem Fenster. An dem Tisch saß Laurent und schlief.
Sein Kopf ruhte auf der Tischplatte. Dann bemerkte ich den blutigen Stein, der daneben lag. Eine rote Pfütze breitete sich langsam aus und tropfte vom Tisch herunter.
„Das Geheimnis scheint größer zu sein, als ich dachte“, seufzte Miray. Sie betrachtete sich kurz den toten Chauffeur, bevor sie eine Schublade des Schreibtisches öffnete, darin herumwühlte und eine kleine Halskette mit einem Medaillon hervorzog. In dessen Kapsel waren zwei Fotos eingelegt, links ein Bild von Laurent und rechts das einer jungen Frau. Außen waren die Initialen EC eingraviert.
Als nächstes holte sie eine kleine Metallfigur hervor und betrachtete sie sich von allen Seiten.
„Das ist vermutlich der Löwe, den die Zwillinge am See gefunden haben. Was meinst du?“.
Sie drückte mir die Figur in die Hand. Es war ein kleiner Löwe aus Gusseisen, der auf einer Metallplatte stand und brüllte. Ich erkannte sofort, um was es sich handelte.
„Das ist die Kühlerfigur eines alten Peugeots! Was für ein schönes Stück. Leider ist sie arg oxydiert und die linke Vorderpfote ist auch abgebrochen.“
Miray hatte zwischenzeitlich eine Mappe mit Zeitungsausschnitten in der Schublade gefunden und den ersten Schnipsel gelesen. Sie zeigte ihn mir und tippte auf ein Foto.
„Erkennst du sie? Das ist die junge Frau von dem Medaillon. Sie wurde von einem Auto angefahren und getötet, der Fahrer floh. Jetzt rate, wie sie hieß!“
„Elodie?“
„Richtig, sie hieß Elodie Collard. Sie muss Laurent sehr nahe gestanden haben.“
„Wir können ihn leider nicht mehr fragen, wer sie war.“
Miray nickte, bevor sie fortfuhr. „In einem anderen Artikel steht, dass am gleichen Abend Henris Peugeot gestohlen wurde, während er bei Freunden an einem Souper teilnahm. Die Polizei vermutet einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Diebstahl und bittet Zeugen, sich zu melden.“
Traurig blickte sie zum reglosen Opfer.
„Dass er nun hier liegt, ist sicher kein Zufall. Laurent hatte wahrscheinlich von Anfang an den Verdacht gehabt, dass Henri der Unfallfahrer war. Aber ein Verdacht reichte nicht, also ließ er sich als Chauffeur einstellen, um Beweise zu suchen.“
„Und dann brachten die Zwillinge ihm die Kühlerfigur!“
„Ja. Laurent wird wie du sofort erkannt haben, was das war. Nun hatte er den Beweis, dass der Peugeot nicht gestohlen, sondern im See beseitigt wurde.“
Das passte alles zusammen.
„Weshalb inszenierte Laurent den Spuk?“, fragte ich.
„Vielleicht, um Henri nervös zu machen. Er lief an dem Abend als Gespenst um den See, um zu zeigen, dass er wusste, wo der Peugeot ist. Er schmierte Elodies Namen an die Wand, weil er wusste, dass Henri die Botschaft verstehen würde. Mit dem lauten Stampfen in der Nacht wollte er den Druck auf ihn noch weiter steigern.“
„Und sein Ziel? Wollte er, dass Henri sich der Polizei stellt?“
„Nein“, tönte eine kräftige Stimme hinter uns, „das Schwein wollte ihn erpressen.“
Wir drehten uns um und sahen Farges. Er stand in der Tür und richtete eine Waffe auf uns. Hinter ihm war Henri, blass und eingeschüchtert.
„Was ist Ihre Rolle in der Geschichte, Monsieur Farges?“, fragte Miray. Doch dann begriff sie. „Ich nehme an, Henri ließ Sie betrunken eine kleine Spritztour in seinem Peugeot machen. Es waren Sie, der am Steuer saß, als Elodie getötet wurde! Nach dem Unfall drohten Sie Henri. Wenn er Ihnen nicht helfen würde, würden Sie der Polizei erzählen, dass er gefahren sei. Also erfanden Sie die Geschichte von dem gestohlenen Wagen und gaben sich gegenseitig das Alibi, die ganze Zeit bei dem Souper gewesen zu sein.“
„Sie sind ein kluges Kindchen“, nickte Farges. „Nach der Spuknacht rief Henri mich zu sich. Er fand einen Erpresserbrief auf seinem Schreibtisch und bat mich um Hilfe. Nun, ich habe mich darum gekümmert, so wie ich mich jetzt auch um dieses Problem hier kümmern werde.“
„Was hast du vor?“, rief Henri aufgeregt.
„Ich wusste, dass die beiden nur Ärger bedeuten! Wir werden sie fesseln und knebeln. Danach werde ich den Stall anzünden. Bis die Feuerwehr eintrifft, wird alles, was uns belasten könnte, nur noch ein Häufchen Asche sein.“
Farges richtete seine Waffe auf Miray. „Los, nehmen Sie ein Seil und fesseln Sie Ihren Verlobten. Es wird mir danach ein Vergnügen sein, Ihnen höchstpersönlich die Fesseln anzulegen.
„Geben Sie auf, Farges“, sprach Miray unbeeindruckt. „Ich möchte Ihnen nicht wehtun.“
Farges lachte laut. „Sie verkennen die Situation, Mademoiselle. Ich bin der, der die Waffe hat.“
Dann ging alles ganz schnell. Mit einer raschen Bewegung griff Miray Farges Arm und schob ihn zur Seite, so dass die Waffe nicht mehr auf uns gerichtet war. Dabei löste sich ein Schuss und zerschlug eine Fensterscheibe. Nun drehte sie sich in ihren Gegner hinein und hebelte die Waffe aus seiner Hand. Kaum fiel sie zu Boden, kickte Miray sie zu mir. Als nächstes warf sie Farges mit einem Hüftschwung laut krachend vor sich auf den Boden. Sie hielt seinen Arm weiter fest, verdrehte ihn und fixierte seinen Körper mit ihrem Fuß. Völlig hilflos wand sich Farges unter ihrer Gewalt. Er versuchte, sich zu befreien, aber sie hebelte seinen Arm, bis er seinen Widerstand endgültig aufgab.
„Und was nützt Ihnen Ihre Waffe jetzt, Monsieur Farges?“, fragte Miray ihren Gegner, der besiegt und regungslos vor ihr lag.
Ich hob den Revolver auf und richtete ihn auf Farges, während Miray ihm hochhalf. Dann führten wir ihn und Henri zum Haus, aus dem uns Jérôme vom Schuss aufgeschreckt bereits entgegengelaufen kam. Er war überrascht von dem Anblick, eilte aber sofort zurück, um die Polizei zu rufen.
Als wir das Haus erreichen und Zoé ihren Mann sah, lief sie zu ihm, umarmte ihn und fragte, was das alles zu bedeuten hatte. Er schwieg, bis die Polizei eintraf. Dann gestand er die ganze Geschichte von Elodie, Farges und dem Chauffeur. Er und Farges wurden festgenommen und abgeführt.
„Damit dürfte Elodies Fluch sein Ende gefunden haben“, bemerke Miray und deutete auf den grünen Kreis auf ihrem Handgelenk. „Lass uns packen gehen. Ich glaube, unsere Anwesenheit ist weder erforderlich noch weiter erwünscht. Schließlich habe ich meinen Onkel gerade der Polizei ausgeliefert.“
„Allerdings war es nicht er, der den Wagen fuhr“, merkte ich an, während wir auf unsere Zimmer gingen.
Sie nickte. „Das stimmt. Ich hoffe, dass er das auch vor Gericht beweisen kann. Farges wird alle Tricks versuchen, um seinen eigenen Kopf zu retten.“
Nachdem ich meine Sachen gepackt hatte, stand ich mit meinem Koffer in Mirays Zimmer und sah ihr dabei zu, wie sie ihre letzten Sachen einpackte. Etwas beschäftigte mich so sehr, dass ich schließlich den Mut fand, sie zu fragen.
„Wie bist du mit Farges fertig geworden? Das sah aus wie Kampfsport.“
Sie nickte verlegen. „Das war es auch. Frag mich bitte nur nicht, welche Art.“
Auch wenn mir bereits aufgefallen war, dass Miray kräftig war und sich fit hielt, überraschte mich diese neue Seite an ihr.
„Deshalb hattest du gestern im Salon keine Angst vor Farges, als er dich schlagen wollte.“
„Ich wünschte mir fast, er hätte es getan“, sagte sie traurig. „Dann hätte ich ihm bereits gestern die Knochen gebrochen und Laurent wäre vielleicht jetzt noch am Leben.“
„Auf jeden Fall finde ich es sehr beeindruckend!“
„Findest du? Eigentlich verabscheue ich Gewalt.“
Der Widerspruch irritierte mich. „Warum hast du es dann gelernt?“, fragte ich sie.
Sie machte ein ernstes Gesicht. „Ich habe nicht darum gebeten. Zwei Träume bevor wir uns trafen, fand ich mich als einzige Frau in einer Kampfschule irgendwo im tiefsten Asien wieder. Die Schule lag in völliger Abgeschiedenheit und glich einem Kloster in der Mitte einer riesigen Einöde. Meine Aufgabe war es, den Meister im Kampf zu besiegen. Fast zehn Monate lang saß ich in diesem Albtraum fest, bis es mir schließlich gelang.“
Ich erschrak. Bisher hatten die Träume höchstens ein paar Tage gedauert und überwiegend Spaß gemacht. Dass sie monatelang dauern konnten, hatte ich nicht erwartet.
„Was ist mit deiner Narbe auf dem Oberarm?“
„Da hat mich aber jemand sehr genau angeschaut“, bemerkte sie und ich errötete.
Dann schmunzelte sie kurz und nickte. „Die Narbe stammt von einem Kampf in jener Schule. Mein Gegner hatte eine Fackel und verbrannte mich dort. Seitdem habe ich sie in meinen Traumreisen.“
„Das heißt, wenn uns ein Schuss aus Farges Waffe getroffen hätte, hätten wir sogar sterben können?“, fragte ich entsetzt.
Sie zuckte mit ihren Schultern. „Sag mir Bescheid, wenn du es herausgefunden hast.“
Während Agnès und Paule unser Gepäck zum Auto brachten, verabschiedeten wir uns von Tante Zoé und den beiden Zwillingen. Danach schüttelten wir auch den Zimmermädchen die Hände, bevor Jérôme uns die Tür des Citroëns öffnete. „Ich befürchte, unser Chauffeur ist zurzeit ein wenig indisponiert“, sagte er förmlich, „Sie werden mit mir vorlieb nehmen müssen.“
Als der Wagen losfuhr, blickten wir ein letztes Mal zurück und winkten zum Abschied, bis das Haus hinter den Bäumen verschwand. Der Wagen passierte das große Tor und bog auf die Landstraße ein.
„Bist du soweit?“, fragte Miray mich und streckte ihren Arm aus.
Ich nickte. „Bis zum nächsten Traum, Miray.“
Dann berührten wir unsere Handgelenke und alles wurde schwarz.