- Episode:
- 1
- Version:
- V1.5
- Veröffentlicht am:
- Letzte Änderung:
- Länge:
- 7200 Wörter
- Lesedauer:
- 34 Minuten
- V1.5 – 20. September 2024
- Rechtschreibkorrekturen
- V1.4 – 11. Juli 2024
- Miray kann nicht wissen, dass auf der anderen Seite der Tür Charpentier Wache hält.
- V1.3 – 17. Juni 2024
- Rechtschreibkorrekturen
- V1.2 – 20. Mai 2024
- Kleinere stilistische Korrekturen
- V1.1 – 16. Mai 2024
- Vor dieser Änderung konnte Martens nicht wissen, wer die Personen sind, die ihn auffordern, seinen Koffer zu öffnen.
- V1.0 – 11. Mai 2024
Träne der Wüste
Ist unser Gehirn nicht fantastisch? Abends legen wir uns ins Bett und lesen noch ein paar Zeilen, bis uns die Müdigkeit übermannt und wir dem Text nicht mehr folgen können. Aber kaum haben wir die Augen geschlossen und sind eingeschlafen, werden wir die Hauptdarsteller in einem Film, den unser Gehirn sich eigens für uns ausgedacht hat. Wir tauchen ab in eine Welt, die es gar nicht gibt. Manchmal ist sie schön, manchmal Angst einflößend. Und jede Nacht ist sie neu.
Es war ein langer Tag in der Werkstatt, in der ich vor ein paar Wochen als Mechaniker angefangen hatte. Als endlich Feierabend war und ich mich verabschieden wollte, bat mein Chef mich noch kurz zu sich.
„Dian, du hast in den letzten Tagen lange und hart gearbeitet. Hast du keine Familie, keine Frau und Kinder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin Single. Wieso, hast du Interesse?“
Er lachte laut auf. „Du siehst abgespannt aus, Dian. Das Wochenende steht vor der Tür. Ruhe dich mal richtig aus. Ich will dich am Montag nicht vor 10 Uhr in der Werkstatt sehen!“
Das Angebot nahm ich dankend an. Es war tatsächlich eine lange Woche. Nun freute ich mich auf nichts mehr als auf einen riesigen Döner, ein heißes Bad, ein wenig fernsehen und schließlich ins Bett fallen. Der Plan ging fast auf, aber gesättigt vom Döner und entspannt vom heißen Bad schlief ich nicht in meinem Bett, sondern bereits vor dem Fernseher ein.
Ein beißender Geruch weckte mich aus meinem Schlummer. Ein Geruch von altem Urin und verbranntem Holz. Das Zimmer schaukelte sanft unter dem Geräusch eines gleichmäßigen Ratterns. Es heulte die Pfeife einer Dampflokomotive.
Schlaftrunken öffnete ich die Augen und fand mich auf einer Toilette sitzend wieder. Durch ein mattiertes Fenster fiel Tageslicht in die enge und schmucklose Kabine, in der ich mich befand. Die Einrichtung war völlig aus der Zeit gefallen. Die Wände waren holzvertäfelt. Gegenüber vom Fenster hing ein schlichter, mit Flecken gesprenkelter Spiegel an der Wand. Darunter war ein kleines, emailliertes Waschbecken angebracht. Ein weiß lackiertes Rohr führte von der Decke am Spiegel vorbei und endete an einem kleinen Wasserhahn. An einem Haken an der Tür hing das weiße Jackett einer Uniform nebst der dazu gehörenden Mütze.
„Das muss ein Traum sein“, murmelte ich. Es fühlte sich jedoch gar nicht danach an. Mein Kopf war hellwach und bei klarem Verstand. Ich konnte mein Umfeld sehen, hören, spüren und leider sogar riechen.
Jemand hämmerte laut an die Tür. „Lacombe, was ist los, sind Sie da drinnen eingeschlafen?“, rief eine energische Männerstimme von außen. „Wir haben Gäste, die auf Sie warten!“
„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln“, entgegnete ich.
„Werden Sie nicht frech, Lacombe!“, fuhr die Stimme mich an. „Ich höre doch, dass Sie es sind.“
Der Mann klang nicht danach, mit mir eine sachliche Diskussion darüber führen zu wollen, wie ich hierher kam oder warum er mich Lacombe nannte. Er rappelte an der Türklinke. Glücklicherweise war die Tür von innen verriegelt. Darauf hämmerte er nur noch energischer. Das Schloss knackte und drohte nachzugeben. Also entschloss ich mich, das Spiel lieber mitzuspielen.
„Ist gut, ich bin gleich da!“, rief ich eilig zurück. Der Mann auf der anderen Seite der Tür beruhigte sich und knurrte noch ein paar unverständliche Worte, bevor er ging.
Ich stand auf, zog mir die Hose hoch und betätigte die Spülung. Ein wenig Wasser gurgelte aus dem Kasten an der Decke und lief durch die Schüssel. Am Waschbecken wusch ich mir die Hände und sah dabei in den Spiegel. Der Mann im Spiegelbild war eindeutig ich mit meinen braunen Haaren, die zu einem fülligen Seitenscheitel frisiert waren, meinen haselnussbraunen Augen und meinem gepflegten Drei-Tage-Bart. Das weiße Hemd an meinem Körper, das perfekt gebügelt und gestärkt war, konnte dagegen unmöglich mir gehören.
Ich nahm das Jackett vom Haken und betrachtete es. Es war ebenfalls weiß und besaß eine Knopfreihe mit goldenen Knöpfen. Der Schnitt war nicht modern, aber die Kleidung war neu und von guter Qualität. Am Revers steckte ein kleines messingfarbenes Schild mit meinem falschen Namen. Ich zog das Jackett an und setzte mir die Mütze auf, welche in glänzenden Lettern die Worte „Wagon Restaurant“ trug.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Dahinter befand sich der Einstiegsbereich und führte mich in den nächsten Waggon. Dort erwartete mich bereits ein älterer und korpulenter Herr in dunkelblauer Uniform. Sein Namensschild verriet mir, dass er Monsieur Moreau hieß. Eine doppelte Knopfreihe und die Form seiner Schirmmütze deuteten an, dass er einen höhergestellten Rang als ich bekleidete. Sein cholerisches Gesicht war rot vor Wut.
„Da sind Sie endlich, Lacombe!“, donnerte er. „Am Tisch warten Gäste auf Ihren Service. Los, los!“
Mit seinen riesigen Händen kehrte er mich in einen schmalen, mit edlem Teakholz getäfelten Gang. Ich durchschritt ihn und erreichte den Speisebereich. Er war ebenso altmodisch eingerichtet wie alles in diesem Zug. Purpurrote Vorhänge hingen an den Fenstern, vor denen gedeckte Tische mit weißen Tischdecken, gefalteten Servietten und kleinen Vasen mit bunten Blumen darin aufgestellt waren. Schwere, mit beigem Leder bezogene Stühle warteten auf Gäste.
An einem der Tische saß ein Paar. Er trug einen klassischen Anzug, sie eine weiße Bluse und einen Hut, der zwar elegant, aber altmodisch wirkte. Als der Mann mich sah, winkte er mich ungehalten zu sich und bestellte zwei Kaffee und die Tageszeitung.
Glücklicherweise hatte ich während meiner Ausbildung zum Mechaniker einen Ferienjob als Kellner in einem Café, um mein Konto aufzubessern. So fand ich mich schnell in meiner neuen Rolle zurecht. Ich ging in die Küche, orderte beim Koch den gewünschten Kaffee und fragte nach der Tageszeitung.
„Die werden wir erst in Belgrad an Bord nehmen“, teilte er mir mit, während er zwei Kaffeetassen auf ein Tablett stellte und das gewünschte Getränk aus einer großen Kanne hineinlaufen ließ.
„Und wann werden wir dort ankommen?“
„Etwa um halb fünf.“
An meinem Handgelenk fand ich eine altmodische, schlichte Armbanduhr, die vier Uhr fünfundzwanzig zeigte.
„Das ist ja schon in fünf Minuten!“, stellte ich fest.
Der Koch sah überrascht auf seine Uhr und lachte dann. „Lacombe, Ihre Uhr geht noch nach osteuropäischer Zeit. Sie hätten sie hinter Sofia eine Stunde zurückstellen müssen.“
Ich trug das Tablett an den Platz, servierte den Kaffee und teilte dem Herren mit, dass er auf seine Zeitung noch eine gute Stunde warten müsse. Er knurrte kurz und drückte mir unter dem strengen Blick seiner Frau eine kleine Münze als Trinkgeld in die Hand.
Die Sonne ging bereits unter, als der Zug in Belgrad einfuhr. Dort hatten wir zehn Minuten Aufenthalt. Passagiere stiegen aus und ein, Gepäck und Fracht wurde verladen, während die Lokomotive an das andere Ende des Zuges gekoppelt wurde, um uns wieder aus dem Kopfbahnhof herauszuziehen.
Als wir die Fahrt fortsetzten, liefen in der Küche bereits die Vorbereitungen für das Dîner auf Hochtouren. Ich servierte gerade Apéritifs an eine Gruppe Reisender, als zwei Herren in unauffälliger Kleidung auf mich zukamen und mich zur Seite nahmen. Sie stellten sich als Inspektor Reynaud von der französischen Sûreté und Lieutenant Barnes von Scotland Yard vor, und baten mich, sie zum Chef de Brigade zu führen. Ich brachte sie in die Küche, wo Moreau mit dem Koch diskutierte.
Als er mich mit den beiden Herren sah, bäumte er sich vor mir auf. „Fahrgäste haben hier nichts verloren, Lacombe!“
„Diese beiden Herren sind von der Polizei und möchten zum Chef de Brigade“, erklärte ich. „Wo finde ich ihn?“
Moreau holte tief Luft und rang nach Worten. „Lacombe“, rief er schließlich, „wer, glauben Sie, steht vor Ihnen?“
Inspektor Reynaud trat nach vorne, zeigte Moreau seinen Dienstausweis und stellte sich und seinen Kollegen vor. „Wir vermuten, dass ein Dieb in diesem Zug ist, der in Konstantinopel einen wertvollen Aquamarin gestohlen hat.“
Ich lachte laut. „Konstantinopel? Sie meinen Istanbul!“
Die Anwesenden verstummten und sahen mich irritiert an. Dann packte Moreau mich feste am Arm und zerrte mich zur Seite. „Ich weiß nicht, was heute in Sie gefahren ist, Lacombe. Aber noch eine weitere Dummheit von Ihnen, und ich werde persönlich dafür sorgen, dass das Ihre letzte Fahrt für die Compagnie ist.“
Reynaud räusperte sich und setzte seine Ansprache fort. „Unglücklicherweise ist nicht bekannt, wie der Dieb aussieht. Wir möchten das Personal bitten, uns alles Verdächtige umgehend und diskret zu melden. Der Dieb ist möglicherweise bewaffnet, seien Sie also vorsichtig und spielen Sie nicht den Helden!“
Moreau versprach, das übrige Personal in Kenntnis zu setzen. Reynaud bedankte sich. Dann führte ich die beiden Polizisten an einen freien Tisch im Restaurant, von dem aus sie den Wagen gut überblicken konnten.
Mir schmerzte von Moreaus persönlicher Ansprache immer noch der Arm. Diesen Traum empfand ich anfangs noch als ganz amüsant, aber er zog sich nun bereits über Stunden hin und Moreaus Gemeinheiten wurden auch immer unerträglicher. Doch so sehr ich es versuchte, es gelang mir nicht, aufzuwachen. Ich schien ein Gefangener dieser fremdartigen Realität zu sein.
Ein Mann in Uniform der Bahngesellschaft kam auf mich zu. Seine Plakette verriet mir, dass er Monsieur Charpentier hieß, und seine Mütze, dass er Conducteur war. Sein Gesicht war hager und von tiefen Falten durchzogen. Über seinen schmalen Lippen trug er einen breiten grauen Schnurrbart, den er sorgfältig pflegte. Er sah mich ernst an und es schien mir fast so, als ob das sein einziger Gesichtsausdruck war.
„Lacombe“, sprach er bedächtig, „im hinteren Gepäckwagen sind die Tageszeitungen, die wir in Belgrad bekommen haben. Bitte verteile sie an die Passagiere in den Abteilen und im Restaurant.“
Ich nickte und machte mich sofort an die Arbeit.
Der Zug setzte sich aus einer Dampflokomotive und fünf Wagen zusammen, wie ich feststellte. Im Gepäckwagen, der in Belgrad an die Lok gekoppelt und so zum vorderen Wagen wurde, begann meine Reise. Es folgten der Restaurantwagen und zwei Schlafwagen, bevor der Zug mit dem hinteren Gepäckwagen abschloss. Dort fand ich tatsächlich einen Stapel Zeitungen, die mit einem Band sorgfältig zu einem Paket geschnürt waren. Ich entfernte das Band, nahm die Zeitungen an mich und begab mich zu den Abteilen.
Die meisten Passagiere waren nicht interessiert oder reagierten gar nicht erst auf mein Klopfen. In Abteil 10 traf ich erneut das Paar von heute Nachmittag an.
„Das wurde aber auch Zeit!“, knurrte der Mann, während er mir ein Exemplar des Daily Telegraph aus der Hand riss.
„Darling“, ermahnte ihn seine Frau, „der Serveur kann nichts dafür, dass die Zeitung erst in Belgrad den Zug erreicht.“
Er sah mich grimmig an, nickte kurz und schlug die Abteiltür vor meiner Nase zu.
Ich erreichte schließlich den anderen Schlafwagen und klopfte an die Tür von Abteil 3. Eine junge Frau öffnete mir. Sie trug eine schlichte, aber elegant bestickte blaue Bluse mit langen Ärmeln, die ihre Figur betonte und in einen weiten, bodenlangen Rock überging. Der kleine Hut auf ihrem Kopf entsprach dem Stil ihrer Kleidung. Dennoch wirkte ihr Outfit auf mich wie ein Theaterkostüm, denn ihre silbergrauen Haare mit hellblauen Strähnen und ihre kurze, freche Pixiefrisur passten nicht dazu. Sie reiste alleine, und ich fragte mich unwillkürlich, was sie in diesen Teil der Welt verschlagen haben könnte.
Sie sah mich erwartungsvoll an. Mir wurde bewusst, dass ich sie anstarrte, und räusperte mich verlegen. „Möchten Sie den Daily Telegraph?“
„Ist die Zeitung von heute?“
„Das ist eine gute Frage! Welches Datum haben wir?“
„Es ist der 16. März“, antwortete sie irritiert.
Ich suchte das Datum auf der Zeitung. Sie war vom 15. März, also von gestern.
Daneben fand ich das Jahr. In schwarzen Lettern, die noch von frischer Druckerfarbe glänzten, stand dort die Zahl 1909.
Meine Beine wurden plötzlich ganz weich und zittrig. Ich wäre gestürzt, doch die Frau hielt mich rechtzeitig fest, bevor ich zusammensackte. Sie stützte mich mit unerwarteter Kraft und führte mich in ihr Abteil auf den Sitz.
„Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!“
„Das Jahr“, stammelte ich, „dieser Zug… Das ergibt alles keinen Sinn!“
Sie sah mich mit großen Augen an. Zweifellos musste sie mich für verrückt halten. Ich entschuldigte mich rasch und versuchte, aufzustehen und das Abteil zu verlassen, aber sie schnappte meinen Arm und zog mich auf den Sitz zurück.
„Bitte zeigen Sie mir Ihr linkes Handgelenk!“, forderte sie mich auf.
Es war ein seltsamer Wunsch, aber was war an diesem Traum nicht seltsam. Ich zog meinen Ärmel hoch und präsentierte ihr meinen Unterarm. Sie griff an meine Armbanduhr und zog sie aus. Darunter waren zwei parallele Striche auf mein Handgelenk tätowiert. Ich trage eigentlich keine Tattoos, doch dieses sah aus, als wäre es schon immer dort gewesen.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich sie verblüfft, während ich erfolglos versuchte, es wegzuwischen.
„Du glaubst, das hier ist ein Traum, aber du kannst nicht aufwachen, nicht wahr?“
„Woher wissen Sie das?“
Sie schob ihren linken Ärmel hoch. Auf ihrem Handgelenk waren die gleichen Striche zu sehen.
„Es ist schön, dass ich dieses Mal nicht alleine bin“, sagte sie erfreut. „Ich heiße Miray. Und du? Ich nehme an, Lacombe ist nicht dein richtiger Name.“
„Dian“, stellte ich mich vor. „Was meinst du mit ‚dieses Mal‘? Hattest du schon öfter solche Träume?“
„Ja, einige. Vor ein paar Monaten fing es damit an. Bisher war ich aber immer alleine unterwegs.“
„Wie hast du es geschafft, wieder aufzuwachen?“
„Oh, das ging erst, nachdem ich eine Aufgabe gelöst hatte.“
„Eine Aufgabe? Was für eine Aufgabe?“
„Das war jedes Mal unterschiedlich. Die Hinweise waren in den Träumen versteckt, ich musste sie finden und zusammenfügen.“
Ich sah auf mein Handgelenk. Zwei Striche und zwei träumende Personen, das hing sicherlich zusammen.
„Vielleicht war es deine Aufgabe, mich zu finden?“
Miray schüttelte den Kopf und deutete auf ihr Tattoo. „Wenn die Aufgabe erfüllt ist, erscheint ein grüner Kreis.“
Ich sah aus dem Fenster. Wir durchfuhren eine karge, mediterrane Landschaft, in der sich Felder, Weiden und kleine Wäldchen abwechselten. Die Sonne war bereits hinter einer Bergkette am Horizont verschwunden und tauchte die Wolken am Himmel in ein sattes pinkfarbenes Abendrot.
„Wo sind wir eigentlich?“, fragte ich meine neue Gefährtin.
„Wir sind in einem Zug der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, besser bekannt als Orient-Express, auf dem Weg von Konstantinopel nach Paris. Die letzte Station war Zimony, davor hielten wir in Belgrad. Demnach müssten wir momentan durch das Königreich Serbien fahren.“
Ich staunte. Sie war offensichtlich eine gute Beobachterin.
Als ich fragte, woher sie das Datum kannte, öffnete sie ihr Handtäschchen und reichte mir einen kleinen Zettel. Es war eine Fahrkarte der Compagnie, gültig für eine Fahrt von Sofia nach Paris und entwertet am 16. März 1909.
Sie schmunzelte. „Glaubst du etwa, ich reise ohne Billett?“
„Und jetzt?“, fragte ich. „Wie finden wir heraus, welche Aufgabe wir erfüllen müssen?“
„Ich hoffte, in der Zeitung einen Hinweis zu finden.“
Miray nahm einen Daily Telegraph von dem Stapel und begann, die Schlagzeilen zu überfliegen. Dann hielt sie mir einen Artikel vor die Nase.
„Berühmter Aquamarin gestohlen!“, las ich vor. „Bei einem spektakulären Einbruch wurde in Konstantinopel am vergangenen Sonntag der legendäre Aquamarin Träne der Wüste aus dem hochgesicherten Topkapı-Palast entwendet. Der Dieb befindet sich auf der Flucht nach London, eine internationale Fahndung ist in vollem Gange. Alle Verkehrswege aus der Stadt werden von der Polizei überwacht.“
Ich nickte. „Richtig, in Belgrad stiegen zwei Polizisten in Zivil zu, die nach dem Dieb suchen.“
„Ein Dieb auf der Flucht, Undercover-Polizisten im Zug, da haben wir doch unser Abenteuer! Haben die Polizisten ein Foto oder eine Beschreibung von ihm?“
„Leider nein. Sie sagten, niemand weiß, wie er aussieht.“
Sie seufzte. „Das wird nicht leicht. Der Dieb wird uns kaum selbst verraten, dass er es ist.“
Wir starrten eine Weile gemeinsam aus dem Fenster. Wenn wir hier nicht für immer festhängen wollten, musste eine Idee her, aber mir wollte nichts einfallen.
„Mit leerem Magen kann ich einfach nicht denken“, knurrte ich.
„Das geht mir genauso“, stimmte sie mir zu. „Der Dieb wird früher oder später sicher auch Hunger bekommen. Wir könnten im Restaurantwagen warten, bis jemand kommt, der verdächtig aussieht!“
Der Plan klang gut. Ich schlug vor, alles dafür vorzubereiten. Dann nahm ich die Zeitungen und verließ das Abteil.
Es war gegen zwanzig Uhr, als der Express den Bahnhof der serbischen Stadt Subotica verließ und kurz darauf die Grenze zu Ungarn passierte. Unsere nächste Station Budapest würden wir erst in gut drei Stunden erreichen. Für die Passagiere gab es nichts weiter zu tun, also genossen sie den Luxus an Bord. Die wenigen Fahrgäste, die am letzten Halt zugestiegen waren, richteten sich in ihren Abteilen ein, andere nahmen im Salon des Speisewagens einen Apéritif zu sich oder gingen essen.
Miray hatte sich für den Abend fein gemacht und in einer Ecke an einem Tisch für zwei Personen Platz genommen.
Meine Aufgabe war es, Herren, die alleine reisten und vom ersten Eindruck als der gesuchte Dieb in Frage kamen, unbemerkt an ihren Tisch zu lotsen. Miray würde dann versuchen, mit Smalltalk mehr über sie zu erfahren. Wie sich herausstellte, benötigten die Herren keinen Vorwand, um ihr Gesellschaft leisten zu dürfen. Einer nahm mich sogar zur Seite und stopfte mir dezent einen Geldschein in meine Reverstasche, damit ich ihn an ihren Tisch brachte.
Ich selbst ging weiter meiner Arbeit nach, nahm Bestellungen entgegen und servierte Speisen und Getränke. Beinahe hatte ich vergessen, in welcher sonderbaren Situation ich mich befand. Stattdessen bemerkte ich einen großen Vorteil meiner Rolle. Die meisten Gäste beachteten die Servicekräfte nicht und redeten ungeniert weiter, während ich neben ihnen am Tisch stand und so tat, als würde ich nicht zuhören.
Nachdem ich den beiden Polizisten einen Kaffee serviert hatte, blieb ich in dezentem Abstand zu ihnen stehen und lauschte unauffällig ihrem Gespräch. Sie unterhielten sich über den Einbruch. Der Dieb hatte sich zu Nutze gemacht, dass in dem Palast Baumaßnahmen stattfanden. Er hatte eine der Wachen bestochen, um unbemerkt hineinzugelangen. Zwar löste er einen Alarm aus, als er den Edelstein stahl, aber als die Wachleute eintrafen, fanden sie nichts weiter vor als eine zerschlagene Vitrine, in der statt des Steines ein fuchsroter rechter Samthandschuh lag. Es war das Markenzeichen des berüchtigten englischen Meisterdiebes Velvet Fox, der bereits in etlichen europäischen Großstädten sein Unwesen trieb und nun seinen Radius in den Orient auszudehnen schien. Scotland Yard versuchte schon lange, ihn zu kriegen, bisher ohne Erfolg.
Zwei ältere Damen sprachen mich an und baten mich, ihnen Sandwiches in ihr Abteil zu bringen. Ich servierte den gewünschten Imbiss. Auf dem Weg zurück in den Speisewagen kam mir Miray auf dem Gang entgegen. Sie sah müde aus.
„Wie lief es bisher mit deinen drei Herren?“, fragte ich neugierig.
Sie seufzte. „Nicht gut. Der erste war ein Bankier. Er stinkt vor Geld und teuren Zigarren, und hat es sicher nicht nötig, Edelsteine zu stehlen. Danach hatte ich einen Vertreter für Maschinenteile an meinem Tisch, der geschäftlich in Belgrad zu tun hatte und mir alles über seine patentierten Nockenwellen erzählte. Ich glaube nicht, dass er ein Interesse an irgendetwas anderem hat.“
„Und der dritte?“
„Der erwartet mich nachher zu einem intimen Tête-à-Tête in seinem Abteil. Wie es aussieht, plant er bereits unsere Hochzeit.“
„Na, da gratuliere ich doch herzlich“, bemerkte ich sarkastisch.
Sie schmunzelte frech. „Ich kann ihn dir gerne vorstellen! Vielleicht hat er ja eine Schwester, die genauso hässlich ist wie er.“
Mit den Worten ließ sie mich stehen.
Gegen zweiundzwanzig Uhr betrat ein älterer, aber sportlich wirkender Mann mit dicker Hornbrille und Schnurrbart das Restaurant. Er war riesig und musste seinen Kopf ein wenig zur Seite neigen, als er durch die Tür trat. Ich begrüßte ihn und wollte ihn an Mirays Tisch bringen, doch er bestand darauf, alleine zu sitzen. Also führte ich ihn an einen Einzeltisch und reichte ihm das Menü des Abends. Er überflog es kurz und nickte wortlos.
Ich servierte ihm als ersten Gang eine Consommé. Als ich gehen wollte, trat ich auf einen Gegenstand, der auf dem Boden lag. Es war ein Abteilschlüssel.
Ich hob ihn auf und zeigte ihn dem Gast. „Ist das Ihr Schlüssel, Monsieur?“
Er bedankte sich wortlos mit einem Nicken, nahm den Schlüssel an sich und steckte ihn ein. Dann sah er mich an. „Ist noch etwas?“, knurrte er leise. Ich schüttelte den Kopf, entschuldigte mich und wünschte ihm einen guten Appetit.
Auf dem Weg zurück in die Küche blieb ich kurz am Tisch meiner Gefährtin stehen.
„Was für ein unfreundlicher Typ“, beschwerte ich mich mit gedämpfter Stimme, während ich so tat, als würde ich ihre Bestellung aufnehmen.
Sie sondierte unauffällig die anderen Tische. „Der Mann am anderen Ende des Wagens?“
„Ja. Er ist gereizt und nicht sehr gesprächig. Außerdem stört mich seine Brille. Sie sieht aus, als ob er versucht, sein Gesicht dahinter zu verstecken.“
Miray warf einen längeren Blick auf den Mann. „Das könnte tatsächlich unser Dieb sein! Wir sollten die Gelegenheit nutzen und einen Blick in sein Abteil werfen, solange er isst. Kannst du die Nummer herausfinden?“
Ich grinste. „Es ist Abteil 14. Er hatte vorhin seinen Schlüssel am Tisch verloren.“
Sie sah mich begeistert an und hielt mir ihre Hand hin.
„Ich habe ihn natürlich zurückgegeben.“
„Wie schade! Und du hast keinen Zugang zu den Abteilen?“
„Ich bin nur ein einfacher Serveur, Mademoiselle“, spielte ich entrüstet. „Aber ich weiß, wer uns hineinlassen kann. Treffen wir uns im hinteren Schlafwagen!“
Ich verließ unauffällig das Restaurant. Am Zugang zum hinteren Schlafwagen wartete ich auf Miray, die wenige Sekunden später folgte. Ich deutete auf Charpentier, der am andere Ende des Ganges auf einem Klappsitz saß und gelangweilt aus dem Fenster starrte.
„Charpentier ist der Conducteur des Zuges“, flüsterte ich ihr zu. „Er kann alle Abteile aufschließen.“
„Nur wird er das kaum ohne guten Grund tun“, flüsterte sie zurück.
„Lass mich das machen“, sagte ich und deutete Miray an, hier zu warten. Dann ging ich zu Charpentier. Als er mich bemerkte, setzte er sich aufrecht hin und richtete sich die Mütze.
„Was wollen Sie, Lacombe?“, fragte er mich genervt.
„Der Monsieur aus Nummer 14 hat seine Brieftasche im Abteil liegen lassen und mich gebeten, sie für ihn zu holen. Können Sie mir die Tür öffnen?“
Charpentier nahm ein kleines Notizbuch aus seiner Tasche und sah hinein. „Das ist das Abteil von Monsieur Martens“, stellte er fest. „Hat er Ihnen nicht seinen Schlüssel gegeben?“
„Nein. Und Monsieur Martens hat keine gute Laune. Ich möchte nicht mit leeren Händen zurückkehren und nach seinem Schlüssel fragen müssen.“
Charpentier stöhnte und erhob sich aus seinem Sitz. Er schloss das Abteil auf und ließ mich hinein, blieb jedoch an der Tür stehen. Ich sah mich um. An einem Kleiderhaken hing ein Trenchcoat und auf der Couch lag ein kleiner Aktenkoffer. Mehr war auf den ersten Blick nicht zu finden, aber mit dem Conducteur neben mir konnte ich das Abteil unmöglich gründlicher durchsuchen.
„Wie lange brauchen Sie noch, Lacombe?“, drängelte er.
„Seltsam! Der Monsieur sagte, seine Brieftasche würde auf dem Tisch liegen, aber da liegt sie nicht.“
„Dann hat er sie möglicherweise doch bei sich. Nun kommen Sie endlich!“
Ich musste es irgendwie schaffen, meinen Wachhund loszuwerden, aber mir fiel nichts ein.
Plötzlich stand Miray im Türrahmen. „Pardon“, sprach sie Charpentier an, „können Sie hinten nach der Toilette schauen? Das Licht funktioniert nicht.“
„Das muss jetzt warten“, versuchte er sie abzuwimmeln.
„Das kann nicht warten“, protestierte sie empört.
„Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin!“
Miray zuckte mit ihren Schultern. „Nun, dann werde ich wohl den Chef de Brigade mit dieser kleinen Misere belästigen müssen.“
Charpentier seufzte. „Schließen Sie die Tür, wenn Sie fertig sind, Lacombe“, sagte er genervt und erhob mahnend seinen Zeigefinger, bevor er ging.
Sie sah ihm hinterher, wie er den Gang entlangschritt. Als er am anderen Ende verschwand, sprang sie zu mir ins Abteil und schloss rasch die Tür.
„Er wird sicher jeden Moment wieder zurück sein“, drängelte ich nervös.
Miray grinste. „Das glaube ich nicht.“ Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und zeigte mir eine darin eingewickelte Glühbirne. „Es wird ihn hoffentlich eine Weile beschäftigen, eine neue aufzutreiben. Trotzdem sollten wir uns beeilen.“
Während sie die Taschen seines Mantels durchsuchte, nahm ich mir Martens Gepäck vor. Er hatte einen kleinen Reisekoffer aus braunem Rindsleder, welcher mit drei Schnallen verschlossen war. Die beiden äußeren ließen sich einfach öffnen, das mittlere Schloss war jedoch fest verriegelt.
„Seltsam“, hörte ich meine Begleiterin sagen, „in seinem Mantel war nichts außer einem einzelnen Handschuh in der Innentasche.“
Ich wurde hellhörig. „Ist es ein fuchsroter Samthandschuh? Möglicherweise sogar ein linker?“
„Woher wusstest du das?“, fragte sie erstaunt und gab mir das Fundstück.
„Volltreffer!“, rief ich triumphierend. „Das ist seine Visitenkarte! Die Polizisten sagten, dass der andere Handschuh des Velvet Fox in der Vitrine gefunden wurde.“
„Dann ist Martens tatsächlich unser Dieb!“, jubelte Miray. „Der Aquamarin könnte in seinem Koffer sein. Kannst du ihn öffnen?“
„Leider nicht. Er ist abgeschlossen und das Schloss ist sehr stabil.“
„Wir werden Hilfe brauchen“, stellte sie frustiert fest. „Bitte hole die beiden Polizisten. Ich werde währenddessen das Abteil weiter durchsuchen.“
Als ich zum Restaurantwagen zurückkehrte, saß Martens immer noch an seinem Platz und speiste arglos. Ich ging an den Tisch der beiden Polizisten. „Wir haben den Dieb gefunden“, flüsterte ich ihnen stolz zu und deutete unauffällig auf den Fahrgast. „Es ist der Mann dort.“
Lieutenant Barnes lachte abfällig. „Woher wollen Sie das wissen?“
Ich holte das Beweisstück aus meiner Tasche und legte es auf den Tisch. Inspektor Reynaud nahm es an sich und betrachtete es mit großen Augen. „Woher wissen Sie von dem Samthandschuh? Diese Information wurde nicht an die Presse herausgegeben!“
„Ich habe Sie vorhin am Tisch belauscht, als Sie sich über den Fall unterhielten“, gestand ich verlegen.
Reynaud und Barnes blickten sich gegenseitig an. Dann übernahm Barnes. „In die Küche“, befahl er, „sofort!“
Die Polizisten standen auf und begleiteten mich in den hinteren Teil des Restaurantwagens. Dort wartete Moreau schon auf mich. „Wo haben Sie gesteckt, Lacombe?“, schnauzte er mich an. „Haben Sie vergessen, dass hier Gäste auf Sie warten?“
Die Polizisten ignorierten ihn. Sie hatten wichtigere Fragen. „Wie zum Teufel sind Sie an diesen Handschuh gekommen?“, bellte Barnes.
Ich hatte mehr Begeisterung erwartet und ahnte in diesem Moment, dass das Gespräch eine unschöne Wendung nehmen würde. Ich schluckte.
„Der Mann kam uns verdächtig vor. Also verschafften wir uns Zutritt zu seinem Abteil und durchsuchten seine Sachen.“
Moreau schlug mit seiner Faust auf den Spültisch, dass das Geschirr schepperte. Sein Gesicht hatte eine ungesunde, violette Farbe angenommen. „Was haben Sie getan, Lacombe? Sie sind in sein Abteil eingedrungen?“, brüllte er aus voller Lunge. „Haben Sie völlig den Verstand verloren?“
Reynaud versuchte, Moreau zu beruhigen. „Um diese Übertretung kümmern wir uns später“, schlug er vor. „Aber warum sagen Sie ‚wir‘? Mit wem arbeiten Sie zusammen?“
„Mit der Frau aus Abteil 3.“
„Ein Passagier?“, staunte Reynaud. „Woher kennen Sie die Madame?“
„Wir haben uns heute im Zug kennengelernt“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Mir wurde erst in diesem Moment klar, wie naiv und unbesonnen sich meine Geschichte anhören musste.
„Das werden Sie mir später ausführlich erklären müssen“, kündigte Reynaud an. „Der Handschuh ist tatsächlich ein starkes Indiz. Wir sollten der Spur nachgehen und das Abteil durchsuchen.“
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, aber als wir das Restaurant betraten, saß Martens nicht mehr an seinem Platz. Sein Essen stand noch dort, er schien den Tisch in Eile verlassen zu haben.
„Er ist weg!“, rief ich in Panik. „Miray wartet in seinem Abteil auf uns. Er wird sie überraschen!“
Wir eilten zu dem hinteren Schlafwagen, wo Charpentier vor dem Abteil 14 stand und uns aufgeregt herbeiwinkte, als er uns kommen sah.
„Das Tür stand offen und es fehlt ein Koffer. Das war bestimmt diese Mademoiselle, die mich weggelockt hat, nachdem ich für Lacombe das Abteil von Monsieur Martens aufschließen musste“, mutmaßte er.
Moreau nutzte die Unaufmerksamkeit der Polizisten, um mich an meinem Kragen zu packen und zu sich zu ziehen. „Sie haben einer fremden Person geholfen, in dieses Abteil einzubrechen, und nun fehlt ein Koffer?“, brüllte er mich an. Ich war erstaunt, dass er seine Lautstärke immer noch steigern konnte. „Das reicht, Lacombe! Sie haben genug angerichtet, das Maß ist voll. Sie sind gefeuert! Packen Sie Ihre Sachen, in Budapest verlassen Sie den Zug. Ich möchte Sie nicht mehr sehen.“
Inspektor Reynaud nahm Moreau zur Seite. „Wir müssen zuerst seine Komplizin finden! Sie muss sich noch im Zug befinden, also wird sie zum hinteren Gepäckwagen geflüchtet sein, sonst wäre sie uns begegnet.“
„Außerdem ist der Verdächtige weg“, ergänzte Lieutenant Barnes, „wahrscheinlich ist er bei ihr.“
Moreau nickte zerknirscht und ließ von mir ab.
„Wann werden wir Budapest erreichen?“, fragte Barnes.
Moreau sah auf seine Uhr. „In etwa 30 Minuten.“
„Wir müssen sie bis dahin geschnappt haben! Wenn sie dort aussteigen, werden wir ihre Spur verlieren.“
Barnes drehte meinen Arm mit einem schmerzhaften Griff auf den Rücken und zwang mich, mitzukommen. Wir passierten gerade den Übergang zum hinteren Gepäckwagen, als der Zug eine Weiche passierte und uns unsanft zur Seite warf. Einen Augenblick später hörten wir einen Schuss.
„Miray!“, rief ich entsetzt.
Reynaud zog sofort seine Dienstwaffe und stürmte in den Gepäckwagen. Ich riss mich von Barnes los und lief hinterher, die anderen folgten uns. Im Gepäckraum lag Martens bewusstlos auf dem Boden, in der rechten Hand hielt er einen kleinen Revolver. Seine Brille lag neben ihm, stattdessen zierte seine linke Schläfe nun eine Platzwunde, die heftig blutete. Meine Gefährtin stand gut zwei Meter von ihm entfernt und umklammerte seinen Koffer.
Als Reynaud sah, dass sie keine Gefahr darstellte, senkte er seine Pistole. Dann nutzte er die Gelegenheit, dass der Verdächtige bewusstlos am Boden lag, um dessen Waffe an sich zu nehmen.
„Was ist hier passiert?“, fragte Barnes Miray.
„Ich bat Dian, äh, ich meine Lacombe, Sie zur Hilfe zu holen“, erklärte sie. „Dann sah ich Martens auf dem Gang, also schnappte ich mir den Koffer und rannte los. Er zog seine Waffe und verfolgte mich. Hier wollte er mich beseitigen. Zum Glück machte der Zug eine plötzliche Bewegung. Er strauchelte und fiel mit dem Kopf auf eine Kiste. Dabei löste sich der Schuss.“
„Sie lügt“, knurrte Martens benommen. Er richtete sich auf, rieb sich die Wunde an seinem Kopf und starrte auf das Blut, das an seiner Hand klebte. „Ich lief ihr hinterher, weil sie meinen Koffer gestohlen hatte. Sie lauerte mir hinter der Tür auf und schlug mich dann nieder.“
Reynaud sah sich um. „Womit hat Mademoiselle sie niedergeschlagen?“, fragte er schließlich. „Ich sehe nichts, was sich eignen würde.“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Martens mürrisch, während er sich auf die Kiste setzte und seine hochhackigen, schwarzen Lederschuhe neu schnürte. Dann stand er auf und klopfte sich den Dreck von seiner Kleidung. „Vielleicht mit dem Koffer oder mit ihren Fäusten.“
Barnes sah Miray an. Dann sah er den Mann an, der deutlich größer als sie war und einen kräftigen Körperbau hatte. „Die Miss sieht mir nicht gerade wie eine Preisboxerin aus“, stellte er fest und lachte laut.
Martens blickte zu den Polizisten und knurrte: „Wer sind Sie überhaupt?“
„Sûreté“, antwortete Reynaud knapp und zeigte seinen Dienstausweis. Dann holte er den Samthandschuh hervor und wandte sich an Miray. „Stimmt es, dass Sie den Handschuh gefunden haben, Mademoiselle?“
„Ja, er war in seiner Manteltasche“, erklärte sie.
„Ich habe diesen Handschuh noch nie zuvor gesehen“, protestierte Martens energisch. „Die Dame will mir etwas anhängen!“
Lieutenant Barnes wandte sich an mich. „Können Sie bestätigen, dass der Handschuh in seinem Mantel war?“
Entsetzt sah ich zu Miray. Ich war gerade mit dem Koffer beschäftigt, als sie den Trenchcoat durchsuchte. Sie hielt plötzlich das Beweisstück in der Hand. Ich nahm an, sie hätte es dort gefunden, aber gesehen hatte ich es nicht.
„Nein“, gab ich zu, „es wäre auch denkbar, dass er ihr gehört.“
Miray ließ sich nicht irritieren. „Der Aquamarin ist im Koffer, nicht wahr?“
„Das lässt sich leicht überprüfen“, sagte Reynaud. „Wenn Sie so freundlich wären, ihn zu öffnen, Monsieur Martens?“
Der Mann stöhnte genervt. Er zog einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche, schloss den Koffer auf und übergab ihn an Reynaud. Der Inspektor stellte das Gepäckstück auf die Kiste und durchsuchte es, aber fand nichts außer Wäsche, einem Necessaire mit Reiseutensilien und einer alten Zeitung. Es gab kein Geheimfach oder doppelten Boden. Nichts, was geeignet wäre, einen großen Diamanten zu verstecken.
Barnes hatte zwischenzeitlich die Taschen des Mannes durchsucht, doch auch dort war kein Diebesgut zu finden.
„Ich denke, die Angelegenheit hat sich damit erledigt“, erklärte Martens und sah Miray vorwurfsvoll an, bevor er seinen Koffer an sich nahm. „Dürfte ich außerdem um meine Waffe bitten?“
Reynaud schüttelte den Kopf. „Die Waffe können Sie sich bei mir abholen, sobald Sie den Zug verlassen. Nur zur Sicherheit.“
„Nun gut. Meine Herren, die Dame…“, verabschiedete sich Martens ungehalten und verließ den Gepäckwagen.
Inspektor Reynaud sah uns lange Zeit schweigend an, bevor er sich leise mit seinem Kollegen beriet. Danach verkündete er sein Urteil. „Mademoiselle Miray, Monsieur Lacombe, wir wissen nicht, welche Rollen Sie in dieser Angelegenheit spielen, aber Ihr Verhalten kommt uns sehr verdächtig vor. Wir werden Sie in dem Abteil der Mademoiselle einschließen, bis wir Paris erreichen. Dort nehme ich Sie dann zum Verhör zur Sûreté mit.“
Es wäre zwecklos, sich bewaffneten Polizisten zu widersetzen, also ließen wir uns von ihnen in das Abteil führen, wo Reynaud uns den Schlüssel abnahm und die Tür von außen absperrte.
Kaum waren wir alleine, stieß Miray mich unsanft auf den Sitz, beugte sich über mich und sah mich verärgert an. „Da bist du mir ja schön in den Rücken gefallen! Glaubst du wirklich, dass ich eine Diebin bin?“
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, antwortete ich verlegen. „Barnes hat mich verunsichert. Ich habe tatsächlich nicht gesehen, ob du den Handschuh in der Manteltasche gefunden oder selbst mitgebracht hast.“
„Du bist mir ein treuer Gefährte. Ich hoffe, nächstes Mal wird es ein Hund, auf den kann man sich wenigstens verlassen.“
„Ich will nichts weiter, als endlich aus diesem verdammten Traum aufwachen und wieder zu Hause sein“, brach es aus mir heraus. „Von mir aus kann mir dieses ganze Abenteuer gestohlen bleiben.“
Schmollend saßen wir nebeneinander und starrten aus dem Fenster. Ich konnte tatsächlich nicht einschätzen, auf welcher Seite Miray stand. Wollte sie den Velvet Fox fangen, oder wollte sie mit meiner Hilfe davon ablenken, dass sie es selbst war? Begann ihre Reise tatsächlich erst in Sofia, oder wollte sie damit nur ihre Spuren verwischen? Ich wusste es nicht.
Ich wusste allerdings, dass sie das gleiche merkwürdige Tattoo hatte. Außerdem war sie es, die mich als Traumreisenden erkannte. Sie gehörte zweifellos ebensowenig an diesen Ort wie ich.
„Miray“, sprach ich vorsichtig, „ich sehe ein, dass wir es nur gemeinsam schaffen werden, aus diesem Traum aufzuwachen. Lass uns wieder Freunde sein und zusammenarbeiten.“
Sie nickte gekränkt. Eine Weile lang starrte sie grübelnd Löcher in die Luft. Dann sagte sie: „Ich verstehe das nicht. Es muss Martens sein, aber wir haben seine Sachen komplett durchsucht und keinen Aquamarin gefunden.“
„Vielleicht hat er den Stein irgendwo im Zug versteckt?“
„Das glaube ich nicht. Wenn ich die Diebin wäre, würde ich den Klunker ständig bei mir tragen. Das Risiko wäre zu groß, dass jemand das Versteck findet oder man später nicht mehr unbemerkt herankommt.“
Sie stand auf und ging aufgeregt hin und her. „Wir müssen Martens unbedingt entlarven, bevor wir Paris erreichen. Sonst ist er weg und wir stecken in echten Schwierigkeiten. Stattdessen sitzen wir in diesem verfluchten Abteil fest.“
Es war fast Mitternacht, als wir im Westbahnhof von Budapest hielten. Während unseres Aufenthalts postierte sich Lieutenant Barnes auf dem Bahnsteig vor unserem Fenster, um sicherzustellen, dass wir nicht türmten. Pünktlich um ein Uhr setzten wir unsere Reise schließlich fort. Laut Fahrplan war der nächste Halt in Bratislava, wo wir um fünf Uhr neununddreißig ankommen würden. Uns stand eine lange, ereignislose Nacht bevor.
„Mir fallen die Augen zu“, sagte ich meiner Begleiterin. „Ich lege mich ein wenig schlafen. Wir können ja sowieso nichts machen.“
„Falls du hoffst, dass du hier einschläfst und zu Hause wieder aufwachst“, erriet sie meine Gedanken, „muss ich dich leider enttäuschen. Das wird nicht geschehen.“
Murrend zog ich mir die Schuhe aus und legte mich auf meine Couch. „Das tut gut“, stöhnte ich leise. „Diese altmodischen Lederschuhe sind wirklich unbequem.“
„Das ist es!“, rief Miray unvermittelt und sprang auf. „Dian, wir müssen aus diesem Abteil raus! Los, stelle dich ohnmächtig!“
Ich schloss die Augen und legte meinen Kopf reglos zur Seite.
„Gut so, nicht bewegen!“, sagte sie und begann, laut an die Tür zu hämmern. Nach einer Weile meldete sich Charpentier auf der anderen Seite und fragte, was los sei.
„Kommen Sie schnell“, rief sie, „Lacombe geht es nicht gut!“
„Ich werde besser einen der Polizisten holen“, antwortete er durch die Tür.
„Dann ist es schon zu spät! Los, Sie müssen ihm helfen!“
Etliche Sekunden vergingen, bis Charpentier die Tür aufschloss und eintrat. Er kam zu mir und rüttelte mich.
In diesem Moment schnappte die Falle zu. Miray schloss die Abteiltür, fixierte den hageren, alten Mann von hinten und hielt ihm den Mund zu. Er hatte gegen sie keine Chance.
„Wenn Sie sich nicht wehren, wird Ihnen nichts passieren“, flüsterte sie ihm zu. „Aber leider müssen wir einen Dieb fangen, bevor wir in Paris ankommen, und dürfen keine Zeit verlieren.“
Sie bat mich, die Gardinenkordeln vom Fenster zu nehmen. Mit den Schnüren fesselten wir seine Arme und Beine. Danach knebelte sie ihn mit einem Taschentuch aus ihrer Handtasche und nahm seinen Schlüsselbund an sich.
„Ach ja“, sagte sie schließlich, nahm die Glühbirne aus ihrer Tasche und legte sie vor Charpentiers Augen auf dem Tisch. „Ich glaube, die gehört Ihnen.“
Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass niemand auf dem Gang war, schlichen wir zu Martens Abteil.
„Was hast du vor?“, fragte ich Miray.
„Seine Schuhe klauen“, antwortete sie knapp.
Sie nahm Charpentiers Schlüsselbund. Der erste Schlüssel ließ sich nicht in das Schloss stecken. Der zweite Schlüssel passte jedoch. Sie schloss die Tür leise auf und öffnete sie vorsichtig.
In dem Abteil schlief Martens auf seiner zum Bett umgebauten Sitzcouch. Seine Schuhe hatte er ausgezogen und in der Nähe des Fensters abgestellt. Miray kniete sich auf den Boden, kroch auf allen vieren zu den Schuhen und nahm sie an sich. Als sie sich auf den Weg zurück machen wollte, sprang Martens plötzlich auf, stieß sie um und drückte sie mit seinen kräftigen Händen an ihrem Genick zu Boden.
„Da hinten sind sie!“, hörte ich in dem Moment die Stimme von Charpentier. Er hatte sich befreien können und kam mit Inspektor Reynaud und Lieutenant Barnes zu uns gerannt.
„Es reicht jetzt!“, rief Barnes wütend. „Sie haben sich gerade sehr viel Ärger eingehandelt.“ Er griff mich unsanft und fixierte mich an der Wand.
„Wie viel muss ich mir noch von diesen beiden Verrückten gefallen lassen?“, protestierte Martens lautstark. Er drückte Miray mit seinem Knie in ihrem Rücken auf den Boden und versuchte, ihr seine Schuhe abzunehmen. Sie lag jedoch auf ihnen und hielt sie fest umklammert.
„Lassen Sie sie aufstehen“, wies Reynaud den Mann an. „Wir werden uns um sie kümmern.“
„Gut“, rief er, „aber dieses Mal machen Sie bitte Ihre Arbeit gründlicher!“ Dann ließ er sie frei. Sie sprang auf ihre Füße, hielt seine Schuhe in ihren Händen und sah ihn drohend an.
„Geben Sie mir meine Schuhe zurück“, befahl Martens.
„Die müssen Sie sich schon holen kommen“, forderte Miray, „und dieses Mal überraschen Sie mich nicht.“
„Was soll dieses Theater?“, fragte Reynaud genervt.
Sie drehte die Schuhe mit der Sohle nach oben. „Ist es nicht merkwürdig, dass so ein Riese wie Monsieur Martens hohe Absätze trägt?“
Reynaud machte große Augen. Dann nahm er die Schuhe an sich und untersuchte sie. Tatsächlich fand er an der rechten Sohle einen kleinen, versteckten Riegel. Als er ihn umlegte, ließ sich der Absatz zur Seite drehen.
Der Inspektor griff verblüfft hinein, zog einen blauen Edelstein hervor und hielt ihn ins Licht. Es war zweifellos die Träne der Wüste.
„Los, nehmen Sie Monsieur Martens fest, Lieutenant!“, wies er seinen Kollegen an.
„Mit Vergnügen, Inspektor!“, antwortete dieser.
Während Barnes den überführten Täter mitnahm, bedankte sich Reynaud wortreich bei uns. „In Paris wird die Reise für den Velvet Fox zu Ende sein und der Stein findet seinen Weg zurück in den Palast. Für Sie steht eine ordentliche Belohnung in Aussicht.“
Miray winkte ab. „Was soll ich damit?“, fragte sie den verdutzten Inspektor. Wir ließen ihn stehen und gingen zurück in ihr Abteil.
„Das war mutig von dir, dich mit Martens anzulegen“, stellte ich fest.
Sie zuckte mit ihren Schultern. „Findest du? Mit Mut hatte das nicht viel zu tun.“
Ich wollte sie gerade fragen, was sie damit meinte, doch sie deutete auf ihr Handgelenk. Ein grüner Kreis umschloss die beiden Striche.
Ich zog meine Armbanduhr aus und fand darunter ebenfalls einen Kreis vor.
„Das heißt, wir können jetzt endlich aufwachen?“, fragte ich.
Sie nickte. „Das heißt es. Vorausgesetzt, du bist bereit, dich von deinem spannenden Job als Servicekraft zu trennen.“
„Der ist passé. Moreau hat mich gefeuert.“
„Er weiß Helden nicht zu würdigen“, bemerkte sie trocken. „Vielleicht hättest du als Kofferträger am Gare de l’Est mehr Erfolg.“
„Ich mag meinen eigentlichen Job als Mechaniker“, winkte ich ab. Dann hielt ich ihr eine Hand voller Münzen entgegen. „Wenigstens habe ich reichlich Trinkgeld gesammelt. Die dürften zu Hause als Sammlerstücke ein Vermögen wert sein.“
„Das ist ein Traum", erinnerte Miray mich. „Ich befürchte, du wirst nichts Materielles mitnehmen können.“
Da hatte sie recht. Das erklärte auch, warum sie so großzügig auf die Belohnung verzichtet hatte.
Traurig steckte ich meine Sammlung zurück in meine Tasche und fragte: „Was meinst du, werden wir uns wiedersehen?“
„Ich weiß es nicht. Es ist das erste Mal, dass ich Gesellschaft von einem anderen Traumreisenden hatte.“
Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich war nicht traurig darum, endlich diesen Traum verlassen zu können. Aber meine smarte und selbstbewusste Gefährtin würde ich vermissen. „Dann mach es gut, Miray“, verabschiedete ich mich.
Ich streckte meine Arme aus. Sie zögerte kurz, dann umarmten wir uns zum Abschied.
„Bist du bereit?“, fragte sie. Ich nickte.
Sie legte ihre Hand auf ihr Tattoo. Nichts passierte.
„Wie es aussieht, müssen wir das zusammen machen“, forderte sie mich auf.
Ich sah sie ein letztes Mal an, bevor ich ebenfalls meine Hand auf mein Tattoo legte. Im selben Augenblick wurde alles um mich herum schwarz und ich stürzte in ein endloses Nichts, bevor ich das Bewusstsein verlor.
Das Geräusch von Maschinengewehren schreckte mich hoch. Träumte ich etwa immer noch? Ich riss die Augen auf. Ein Panzer rollte durch das Bild meines Fernsehers. Ich lag auf der Couch, bedeckt von einem Haufen Kartoffelchips aus einer umgestürzten Tüte.
Rasch schaltete ich den Fernseher aus, befreite mich von den Chips und machte mich auf den Weg ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen und den Rest der Nacht in meinem Bett zu verbringen.
War es wirklich bloß ein Traum, was ich erlebt hatte? Es schien so, jedoch konnte ich mich so detailliert an ihn erinnern wie an eine Reise, von der man vor kurzem erst zurückkehrte. Ich hörte immer noch das Rattern des Zuges in meinen Ohren, und der Geruch der Lokomotive schien in meinem Wohnzimmer weiterzuwabern.
War das alles ein Produkt meines Gehirns, eine Illusion? Oder ist irgendwo anders auf der Welt gerade eine Frau aus einem merkwürdigen Traum aufgewacht, der ebenfalls nicht enden wollte?